Abschied 2016 (Foto: Welz, Klassik Stiftung Weimar)

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  • 11. Juni 2018 — Goethe blickt aus dem Fenster

    Tischbein Goethe

    Wer wünscht sich nicht, noch mit Pantoffeln an den Füßen, das Hemd nachlässig in den Hosenbund gestopft, also anscheinend hier heimisch und vielleicht gerade aus dem Bett gesprungen, einmal in diese Fensternische zu treten und auf eine römische Szenerie zu schauen? Der hölzerne Laden ist nur halb zurückgeschlagen, durch die offene Hälfte dringt helles Licht. Was die Figur erblickt, bleibt verborgen. Die Körperspannung verrät, dass sich auf der linken Seite etwas Interessantes zeigen muss, denn der rechte Fuß ist leicht angehoben.

    »Nur vom Rücken belauschtest du ihn,« dichtet Paul Heyse, »doch glaubst du in jeder /​ Linie den Hauch zu empfinden des Wohlseins, der aus dem Lichtquell /​ Sich durch Adern und Nerven ergossen. Selbst im Nacken das Zöpfchen, der Fuß, der aus dem Pantoffel /​ Halb sich erhob, die Schnalle, die unterm Kniee den Strumpf hält, /​Jeglicher Zug spricht aus: dem Mann ist wohl; wie ein Halbgott /​ Schlürft er, vom Zwange befreit, den verjüngenden Atem der Frühe.« (Zitiert nach Dorothee Hock: Via del Corso 18, Rom. Eine Adresse mit Geschichte, 2. Aufl. Rom 2014, S. 34.)

    Die aquarellierte Zeichnung von J. H. W. Tischbein ist mit Recht berühmt geworden. Sie verrät viel über Goethes Neugierde auf seine neue Umgebung, aber sie bewahrt als Bild eben auch ihr schönes Geheimnis. Eigentlich ist die Lust zu schauen ihr Thema. Das Original des kleinen Werkes befindet sich in Frankfurt/​M., eine zeitgenössische Kopie davon hängt in der Casa di Goethe in der Via del Corso 18. Die abgeschwächte Aura der Kopie wird wettgemacht durch die Authentizität des Ortes. Man steht tatsächlich im Zimmer der ehemaligen Wohnung des Kutschers Collina, in der die deutschen Künstler untergekommen waren, und kann selber aus dem Fenster in die Via della Fontana blicken – was gerade Besucher aus Weimar gerne tun.

    Das Museum, das in dieser Form seit mehr als 20 Jahren in den Räumen eingerichtet ist, vermittelt einen lebendigen Einblick in Goethes italienischen Aufenthalt, seine Rezeptionsgeschichte und seinen Freundeskreis in Italien. Aber es ist nicht nur ein antiquarisches Interesse, das hier befriedigt werden kann. Der Besucher aus dem Norden wird auch mit seiner eigenen deutschen Italiensehnsucht konfrontiert und kann erleben, wie zeitgenössische Künstler diese ausdrücken oder sie ironisch brechen. Und die italienischen Besucher lernen ihre Stadt anders sehen mit den Augen der deutschen Künstler.

    Zur Zeit wird zusätzlich zur ständigen Ausstellung die La cascata e il lago. Eine grand tour in Objekten und Bildern des österreichischen Künstlers Robert Gschwantner gezeigt. Zuvor war die Schau Farbenlieder über und mit Bildern von Hans Werner Henze zu sehen, der den größten Teil seines Komponistenlebens in der Nähe von Rom verbracht hat. Furore gemacht hat in jüngster Zeit eine Ausstellung über Lady Hamilton mit dem Schwerpunkt Schönheitskult und Antikenrezeption in der Goethezeit (2015), dessen beeindruckender Katalog inzwischen vergriffen und nur noch für viel Geld antiquarisch erhältlich ist, eine andere über den protestantischen Friedhof in Rom (2016), den Cimitero Acattolico, auf dem auch August von Goethe begraben ist (»Goethe Filius Patri Antevertens Obiit …«). Man fragt sich verwundert, wie es eigentlich möglich ist, dass die Direktorin Maria Gazzetti mit ihrem kleinen Team so viele gewichtige Wechselausstellungen zeigen kann.

    Die Casa di Goethe verfügt inzwischen über eine beträchtliche eigene Sammlung, die es ihr erlaubt, solche Ausstellungen nicht nur mit Leihgaben zu bestücken. Zu den ältesten Schätzen gehört das Goethe-Portrait von Andy Warhol und die Goethe-Bibliothek von Richard W. Dorn mit vielen Erstausgaben und Seltenheiten. Der von Claudia Nordhoff erarbeitete Bestandskatalog ist in zwei stattlichen Bänden 2017 erschienen und beschreibt die Stücke von Jakob Philipp Hackert bis Barbara Klemm in mustergültiger Weise.

    Schon Goethe hatte seinen Künstlerfreunden in der Wohnung aus der entstehenden Iphigenie vorgelesen. Auch heute gibt es in der Casa ein umfangreiches literarisches und wissenschaftliches Veranstaltungsprogramm. Durch die Vorträge, Lesungen und kleinen Tagungen wird das Publikum vor Ort ans Haus gebunden. Bald wird zum Beispiel der Halbrömer Durs Grünbein erwartet.

    Das Schöne an der Casa di Goethe ist, dass sie einigen Glücklichen sogar die Möglichkeit bietet, die Zimmer in der Via del Corso quasi mit Hausschuhen zu betreten und sich eine Weile heimisch zu fühlen. Gäste oder Stipendiaten können hier ein wissenschaftliches oder künstlerisches Projekt in Rom voranbringen. Seit der Erweiterung der Casa di Goethe im Jahr 2012 steht ein schön gelegenes Appartement im 2. Stock zur Verfügung. Auch Goethe ist nach seiner Rückkehr aus Neapel und Sizilien in diesen 2. Stock gezogen.

    Der Gast lebt heute aber in einer anderen Art von Wohngemeinschaft. Maria Gazzetti bezieht ihn ganz dezent und unaufdringlich in das soziale und intellektuelle Leben der Casa ein. Die welterfahrene Gastgeberin weiß, wie man das macht. Sie war lange Zeit Leiterin des Literaturhauses Frankfurt/​M. und des Lyrikkabinetts München, bevor sie vor gut vier Jahren nach Rom, ihre alte Heimat, zurückgekehrt ist. Ohne dass der Gast es merkt, öffnet sich dann der Fensterladen und gibt den Blick frei auf das zeitgenössische Rom und all seine aktuellen Befindlichkeiten.

    http:/​/​www.casadigoethe.it/​de/​

    Michael Knoche z. Z. Rom