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  • 05. November 2018 — Libraries are not about books, they are about people – Ex Libris, der Film

    Ex libris

    Wer geht schon gerne ins Kino, wenn der Film fast dreieinhalb Stunden dauert? Ich! Aber nur wenn er über Bibliotheken handelt. Jetzt ist, was es auf dem kommerziellen Weltfilmmarkt noch nie gegeben hat, tatsächlich ein solcher Bibliotheksfilm in die Kinos gekommen. Und er ist viel zu kurz, er hätte noch viel länger sein dürfen. Denn er fasziniert nicht nur durch sein Thema (nicht auszuschließen, dass nicht jeder meine Vorliebe teilt), sondern er fasziniert auch als Film: Ex Libris – Die Public Library von New York. 197 Minuten, deutsche Untertitel.

    Der Regisseur Frederick Wiseman, 88 Jahre alt, ist Cineasten ein Begriff als Großmeister des beobachtenden Dokumentarfilms. Für sein einflussreiches Schaffen, darunter seine Filme über das Ballett der Pariser Oper oder die Londoner National Gallery wurde er 2014 in Venedig mit einem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Der neue Film zeigt Szenen aus dem Alltag der New York Public Library, die mit ihren 92 Zweigstellen eine der größten der Welt ist, offen für Forscher, Normalmenschen und Obdachlose.

    Die erste Einstellung zeigt eine Außenansicht des jedem New York-Besucher vertrauten Hauptgebäudes der an der Fifth Avenue mit den beiden grimmigen Löwen. Man hört ein Autohupen, dann wird gleich in eine Podiumsdiskussion mit Richard Dawkins über Atheismus im Foyer der Bibliothek hineingeblendet. Schon hier fällt die ruhige Kameraführung auf, die nicht nur den Rednern Zeit und Raum lässt, um einen Gedanken zu entwickeln, sondern ganz unhektisch auch markante Gesichter des Publikums einfängt und lange bei ihnen verweilt. So viele nichtalltägliche Physiognomien jeden Alters, jeder Rasse und sozialen Schicht sieht man nur in einer einzigen Stadt der Welt, New York. Der Film ist auch ein Portrait der Stadt.

    Am Ende des Films hat man die Bekanntschaft mit Hunderten von Personen gemacht: Besuchern, Lesern, Jobsuchenden, Kursteilnehmern, Gehörlosen, Bibliothekaren, Kindern, Geldgebern, IT-Leuten, Blinden, Forschern sowie Patti Smith und Elvis Costello auf Veranstaltungen in der Bibliothek. Von den Prominenten erfährt man nicht einmal die Namen. Niemand gibt ein förmliches Interview, kein Sprecher aus dem Off kommentiert etwas, keine Filmmusik untermalt etwas. Man sieht nur, was Menschen in der Bibliothek tun.

    Den zahlreichen Benutzern der Bibliothek, die ins Bild kommen, stellt der Regisseur die Bibliothekare gegenüber, die in internen Besprechungen über die richtige Gewichtung von gedruckten Büchern und E-Books diskutieren oder mit ihrem Chef über das noch nicht gesicherte Budget des nächsten Jahres beraten.

    In einer der ersten Szenen führt uns die Kamera in das Callcenter der Bibliothek. Hier wird am Telefon die Leihfrist von Büchern verlängert, Auskunft über knifflige Sachfragen (das Einhorn im Mittelalter) gegeben oder Benutzungsmodalitäten erläutert. Eine Bibliothekarin sagt: »Oh, the Gutenberg Bible is temporarily unavailable for viewing.«

    Die Szenen werden strukturiert durch Außenaufnahmen des Hauptgebäudes, der Zweigstellen in der Bronx, Brooklyn usw. oder vom Schomburg Center for Research in Black Culture. Immer sind auch die Straßen, Häuser, Geschäfte der Nachbarschaft im Bild. Für einen Bibliotheksfilm wird sehr viel gehupt, manchmal rast ein Feuerwehrauto mit heulender Sirene vorbei, man ist halt mitten drin.

    Wie in einem Mosaik setzt sich allmählich im Kopf des Betrachters ein Gesamtbild von der Bibliothek als einem demokratischen Ort der Wissensvermittlung zusammen, der nicht nur die Bedürfnisse der spezialisierten Forscher, der lesenden Hausfrauen oder der Schüler, die ihre Schularbeiten machen müssen, zu erfüllen sucht, sondern auch den Ausgegrenzten der Gesellschaft einen Platz anbietet. »Respect« ist ein Begriff, der immer wieder fällt. »Libraries are not about books, they are about people,« sagt eine Architektin mitten im Film.

    Manchmal kann einen das Kino richtig froh machen. Auf dem Nachhauseweg finde ich alles gut: Den Film, den Regisseur, die New York Public Library, die Bibliotheken schlechthin. Ist doch schön, dass es diesen Ort Bibliothek gibt.

    Trailer des Films
    Website der New York Public Library

    Michael Knoche