Abschied 2016 (Foto: Welz, Klassik Stiftung Weimar)

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  • 15. Oktober 2018 — Sammlungen in Sammlungen von Bibliotheken

    Puppen in der Puppe wie Sammlungen in der Sammlung

    Alte Bibliotheken setzen sich in der Regel aus ursprünglich autonomen Teilsammlungen zusammen. Nur zum geringsten Teil wurden Bücher in der Frühen Neuzeit durch regelmäßigen Kauf im Buchhandel erworben. Typisch war vielmehr die Integration ganzer Nachlässe, Sondersammlungen oder Privatbibliotheken in die öffentlichen Bibliotheken. »Wie bei der Puppe in einer Puppe stehen in einer Bibliothek zahlreiche ineinander verschachtelte Sammlungen« (Wulf D. v. Lucius).

    Nur in wenigen Fällen, etwa wenn es um mittelalterliche Handschriften oder Inkunabeln ging, konnten die Bibliotheken bisher Fragen nach dem Sammlungszusammenhang einzelner Bücher beantworten, weil das Wissen darüber bei diesen besonders wertvollen Objekten zum Standard gehörte. Aber Fragen nach der Herkunft ihrer übrigen Bestände konnten sie meistens nicht beantworten. Es war jahrhundertelang Hauptanliegen der Bibliothekare, die Bestände nach sachlichen Gesichtspunkten und nicht nach Provenienz zu präsentieren. Auch Johann Wolfgang Goethe hat als Chef der Weimarer Bibliothek etwa den privaten Büchernachlass von Herzogin Anna Amalia auf die verschiedenen Fächergruppen aufteilen lassen. So ist er in der Menge der Bestände unsichtbar geworden.

    Aber die kulturgeschichtliche Perspektive auf die eigenen Sammlungen der Bibliotheken setzt sich immer mehr durch. Jürgen Weber spricht von einer Wiederentdeckung der Sammlungen in den Bibliotheken. In den elektronischen Katalogen sind Provenienzdaten immer häufiger recherchierbar. Jetzt geht es darum, auch die Zugehörigkeit der verstreuten Objekte zu den ursprünglichen Teilsammlungen kenntlich zu machen. Für diese Sammlungsbeschreibungen gibt es schon vielversprechende Ansätze, aber noch kein allgemein anerkanntes und überall angewandtes Regelwerk.

    Zu den Ansätzen gehören die Sammlungsdatensätze, die die Herzogin Anna Amalia Bibliothek seit einigen Jahren anlegt. Sie folgen dem Dublin-Core-Standard und informieren u.a. über Inhalt, Umfang, rechtlichen Status, Benutzung, Sammler, Überlieferung und die Beziehung zu anderen Teilsammlungen. Beispiel: Der Datensatz für die Privatbibliothek Goethes

    Da Sammlungen nach bestimmten Prinzipien angelegt sind, sind sie kulturgeschichtliche Gebilde, die von der Forschung nach ihrer Genese und ihrer Bedeutung befragt werden können. Sammlungen geben Objekten einen bestimmten historischen Ort. Zweitens, thematische Sammlungen bestehen in der Regel aus Serien gleichartiger Objekte (z.B. Englische Romane des 18. Jahrhunderts). Die Materialdichte lässt das Typische und das Besondere hervortreten und erlaubt vergleichende Untersuchungen. So können auch für sich genommen wenig originelle Texte zum Sprechen gebracht werden. Drittens grenzen Sammlungen Objekte von der Außenwelt ab und helfen, die überwältigende Vielgestaltigkeit besser in den Griff zu bekommen.

    An einem Beispiel möchte ich erläutern, welchen Nutzen es hat, über die Zugehörigkeit von Objekten in Sammlungen Bescheid zu wissen. So kann ein ehemals tausendfach verbreitetes Reclam-Bändchen mit vier fehlenden Seiten aus der Privatbibliothek von Friedrich Nietzsche, die in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek aufbewahrt wird, für ganz unterschiedliche Erkenntnisinteressen bedeutungsvoll sein. Nehmen wir die Verserzählung Der Gefangene im Kaukasus von Aleksandr Puškin aus dem Jahr 1875. Nietzsche hat es erworben und bei der Lektüre mit Anstreichungen versehen. Daher erlaubt dieses Bändchen z.B. dem Puškinforscher Erkenntnisse über Puškins Rezeption in Deutschland, dem Nietzscheforscher über Nietzsches Interesse an Puškin, dem Leseforscher über Nietzsches Lektürepraxis, nämlich seine Art, mit dem Bleistift zu lesen, oder dem Buchhistoriker Erkenntnisse über Herstellungsprozess und Haltbarkeit von preiswerten Leseausgaben. Aber auch dem Literaturfreund ist gedient, der nur lesen will, was Puškin in seinem Werk geschrieben hat.

    Das Bändchen ist ein gutes Beispiel für ein »boundary object« im Sinne von Susan Leigh Star. Es kann in verschiedenen Kontexten Bedeutung bekommen und von verschiedenen Akteuren interpretiert werden. Man stelle sich vor, welchen Verlust es an Erkenntnismöglichkeiten bedeutete, wenn die Herzogin Anna Amalia Bibliothek die Provenienz dieses für sich genommen wenig originellen kleinen Buches in ihrem Katalog nicht kenntlich gemacht hätte. Jedem, der es in die Hand nimmt, würde sich fragen, warum die Bibliothek ein so defektes Exemplar, das durch einen früheren Leser offensichtlich arg strapaziert wurde, überhaupt aufbewahrt.

    Kurzum: Bibliotheken haben erkannt, dass Sammlungen die Bedeutungsdimension der Einzelobjekte steigern. Sie sind dabei, ihre Bestände mit Kontextinformationen anzureichern.

    Michael Knoche