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  • 11. Februar 2019 — Sollen Bibliotheken Freihandbestände zugunsten von Nutzerarbeitsplätzen abbauen?

    Arbeitsplätze im Gebäude der Juristischen Fakultät Roma III außerhalb der Bibliothek

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    Der gewaltige Ansturm von Lesern verleitet wissenschaftliche Bibliotheken gegenwärtig dazu, ihr Angebot umzubauen. Während es früher darum ging, den Lesern möglichst viele Medienbestände ohne Hürden sofort zugänglich zu machen, geht es jetzt darum, im Bibliotheksgebäude möglichst viele Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Wie lautete doch die Parole? Weg von der Bestandsorientierung, hin zu den Benutzerbedürfnissen.

    Dass der Bedarf an Arbeitsplätzen groß ist und an kaum einer Hochschulbibliothek ausreichend befriedigt werden kann, ist nicht zu leugnen. Aber unübersehbar ist auch: Die meisten Leser arbeiten zwar gerne in der Bibliothek, aber sie brauchen ihre Ressourcen nicht. Eigentlich könnten sie auch woanders arbeiten.

    Ich habe die Situation an der Universität Rom III (Università degli studi di Roma Tre) beobachtet. Die relativ kleine juristische Seminarbibliothek war bis auf den letzten Platz besetzt, aber die Masse der Studenten hat an Tischen gearbeitet, die überall in der Fakultät (außerhalb der Bibliothek) aufgestellt waren. Eine besonders attraktive Arbeitsatmosphäre herrschte auf den Fluren und Lichthöfen nicht gerade, aber die aufgestellten Tische und Stühle schienen ihren Zweck zu erfüllen.

    Schlussfolgerung: Bibliotheken dürfen den Benutzungsboom nicht vorschnell auf sich beziehen. In vielen Fällen suchen die Studenten nur einen Arbeitsplatz. Bei entsprechenden Alternativen wenden sie sich schnell wieder von den Bibliotheken ab. Wenn eine Bibliothek aber Auf-Teufel-Komm-Raus gänzlich auf das bloße Arbeitsplatzangebot setzt, läuft sie Gefahr, die Benutzer zu vergraulen, die auf ihr Medienangebot angewiesen sind und nur deshalb in die Bibliothek kommen.

    Die Sammlungen der Bibliotheken bestehen heute aus einer Mischung von gedruckten Büchern, anderen Medien und digitalen Ressourcen. Zumindest in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften sind Bücher, die zu einem großen Prozentsatz weiterhin nur in gedruckter Form vorliegen, von hoher Relevanz. (Der größte Teil der urheberrechtlich geschützten Publikationen des 20. Jahrhunderts z.B. steht nicht in elektronischer Form zur Verfügung.) Die beste Präsentationsform für Bücher ist die systematische Aufstellung nach Fachgebieten in einem Freihandbestand.

    Der Medienwissenschaftler Markus Krajewski schreibt etwa im Handbuch Bibliothek (Stuttgart 2012, S. 86): »Als intellektuelle Infrastruktur für geistige Arbeit, zumindest im kulturwissenschaftlichen Kontext, kann man auf die Abundanz der Texte, die Reizüberflutung und das Zuviel an Informationen, wie es in ihrer Gesamtschau nur die große Büchersammlung bietet, nicht verzichten. Vom Reiz des Haptischen, dem Blättern im Vergilbten und dem Finden des Verstellten ganz zu schweigen.« Der nach Fachgebieten geordnete und gut gepflegte frei zugängliche Bestand an Büchern bietet nach wie vor den besten Anregungsfaktor.

    Nun argumentieren die Digitalfundamentalisten, Bücher in Freihandaufstellung würden eh den falschen Eindruck vermitteln, als sei dies schon das gesamte Spektrum an Publikationen, das eine Bibliothek zu einem Thema bereithielte. Aber so naiv sind die Benutzer gar nicht. Auch früher haben sie schon damit gerechnet, dass sie im Regal nicht den ganzen Bestand vorfinden, denn sie wussten, dass es Kommilitonen gibt, die zum selben Thema arbeiten und schon etwas entliehen haben könnten.

    Trotzdem kann sich die Bibliothek etwas einfallen lassen, um auf den Anteil der weniger leicht sichtbaren elektronischen Publikationen zu verweisen. Einige Bibliotheken verwenden z.B. einen QR-Code an der Regalstirnwand, über den man auf die entsprechenden E-Books, die dieser Stelle in der Systematik zugeordnet sind, aufmerksam gemacht wird. Andere, wie die Nationalbibliothek Qatar, stellen gleich die E-Reader mit ins Regal. So werden die entsprechenden E-Books aktiv ins Spiel gebracht. Jeder Bibliotheksbenutzer weiß: Für eine erschöpfende Suche ist das Katalogsystem unverzichtbar.

    Über alle Themen aus der schönen neuen Informationswelt sollten die Basisanforderungen nicht vergessen werden, die eine Bibliothek erfüllen muss, damit mit ihr und nicht nur in ihr gearbeitet werden kann.

    Michael Knoche