Abschied 2016 (Foto: Welz, Klassik Stiftung Weimar)

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  • 02. Juli 2018 — Thomas Bürger – Auszüge aus einer Laudatio

    Thomas Bürger am 30.9.2016 in Weimar. Foto Candy Welz © Klassik Stiftung Weimar
    Zum Abschied aus dem Amt des Generaldirektors der Sächsischen Landesbibliothek/​Staats- und Universitätsbibliothek Dresden am 2. Juli 2018

    Ich weiß, dass Thomas Bürger Sorge hat, dass heute zu viel von seiner Person die Rede sein werde. Deshalb habe ich mir für die folgenden Ausführungen die allgemeine Fragestellung zu erörtern vorgenommen, welche Eigenschaften ein Bibliothekar eigentlich mitbringen oder allmählich ausbilden muss, um in seinem Amt erfolgreich zu sein. Wenn ich dabei doch an der einen oder anderen Stelle auf die Person Bürgers zurückkommen muss, liegt das in der Natur der Sache. Beginnen wir also die induktive Analyse dieser allgemeinen Fragestellung bei der Berufswahl.

    Nun ja, der Einfachheit halber halten wir uns hier schon an das Beispiel Thomas Bürgers. Er schildert sein Erweckungserlebnis als Bibliothekar so:
    »Als ich Ende 1975 als studentische Hilfskraft zur Vorbereitung der Ausstellung Simplicius Simplicissimus – Grimmelshausen und seine Zeit zeitgenössische Barockliteratur in Wolfenbüttel ermitteln sollte, zeigte mir [Martin Bircher] prompt die Widmungsexemplare der Barockautoren an Herzog August von Braunschweig-Lüneburg, den Patenjungen des Dresdner Kurfürsten August, sämtlich aus dem 17. Jahrhundert, und – als sei das noch nicht eindrucksvoll genug – auch noch die Regale mit Lessings Schriften, auf denen kurioserweise Lessings Spazierstock lag. Dies war für einen an Reclam-Hefte gewöhnten Studenten einer Massenuniversität eine Sternstunde, in der ich mir plötzlich vorstellen konnte, Bibliothekar zu werden – was ich bis dahin für einen unvorstellbar schrecklichen Beruf hielt.«

    2013 sagt Bürger in einem Interview auf die Frage: »Wofür würden Sie Ihren Job an den Nagel hängen?« »Wahrscheinlich für nichts. Die Vielseitigkeit entschädigt für die Anstrengungen.« Was soll dieses »Wahrscheinlich« heißen? Es hört sich befremdlich an, aber man darf es nicht missverstehen. In dem »Wahrscheinlich« klingt keineswegs ein Zweifel an der eigenen Berufung an, sondern nur der intellektuell gebotene Vorbehalt, dass man nie alle Konstellationen der Zukunft vorhersehen kann. Wahrscheinlich wollte sich Thomas Bürger nur die Möglichkeit offenhalten, ggf. auch Late Night Show Master zu werden oder Kurienkardinal, Thomas Kardinal Bürger, wenn das entsprechende Angebot kommt.

    Zum Beruf des Bibliothekars kam Bürger also von den materialbezogenen Fragestellungen seiner literaturgeschichtlichen Studien. Er betrachtete die Bibliothek als Instrument, um seine wissenschaftlichen Fragen beantworten zu können. Kein Wunder, dass seine erste Anstellung an einer Forschungsbibliothek und nicht an einer Universitätsbibliothek erfolgte, und zwar zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, erst später als wissenschaftlicher Bibliothekar. An der Herzog August Bibliothek hat er sich am 46bändigen Katalog der Deutschen Drucke des Barock beteiligt und mit dem legendären Martin Bircher so manches andere schöne Projekt ausgeheckt. Doch in Wolfenbüttel hatte er gar nicht viel Zeit für seine germanistischen Forschungsinteressen.

    Sein literaturwissenschaftliches Interesse gab seinem bibliothekarischen Tun von Anfang an eine klare Ausrichtung. Er litt ja nicht unter irgendeinem Ordnungszwang, den er ausleben musste und dessen Bibliothekare früher gerne verdächtigt wurden. Vielmehr wollte er etwas mit der Bibliothek erreichen. Als erste wesentliche Voraussetzung für ein erfolgreiches Wirken als Bibliothekar kann also festgehalten werden: Man braucht eine klare Vorstellung davon, was die Bibliothek können soll und was nur die Bibliothek leisten kann. Man braucht eine Idee der Bibliothek.

    Berührungsängste kennt Bürger nicht: Er kann auf Menschen zugehen, ihre Befindlichkeiten ernst nehmen, ihnen Mut machen, ihnen aber auch die Meinung sagen, – wie ich das in dieser Kombination vorher nur bei einem erlebt habe: seinem Mentor und Freund Paul Raabe. Wenn Bürger zornig wird, was selten einmal passiert, merkt man ihm an, dass er es eigentlich gar nicht sein will und nur nicht umhin kommt. Viel lieber ist er gut gelaunt. Im Gegenzug wird er nicht nur geachtet, sondern gemocht. Auch deshalb konnte das Wunder geschehen, dass aus diesem anfänglich bürokratischen Monstrum Sächsische Landesbibliothek/​Staats- und Universitätsbibliothek Dresden – allmählich könnte man einmal einen schöneren Namen finden – dass aus diesem Gebilde ein funktionierendes Ganzes geworden ist.

    Wenn wir nun Punkt 2 einer Voraussetzung für einen erfolgreichen Bibliothekar verallgemeinern wollen, würde ich sagen: Der Akteur darf nicht zu selbstbezogen sein, sonst versperrt er sich den Blick für die Menschen, mit denen er es zu tun hat (und in einer Bibliothek geht es entgegen anderslautender Behauptungen immer um Menschen). Er muss geradezu Lust haben, sich auf sie einzulassen. Nur eine Zusammenarbeit, die solcherart beseelt ist, funktioniert wirklich, wie man hier sehen kann.

    Leider, lieber Thomas, hilft auch für die weitere Untersuchung der Blick auf Deinen Lebensweg am besten. Was für Bürger ab 2003 im neuen Amt des Generaldirektors hinzukam, war die Aufgabe, den Nutzen der vereinigten Bibliotheken für die Universität, das Land und darüber hinaus zu steigern und die SLUB – auch die Abkürzung geht mir kaum über die Lippen – wieder auf einen Champions League-Platz in der Bundesliga der Wissensinstitutionen zu führen. Dazu mussten die internen Strukturen so angepasst werden, dass die Innovationsfreude auf allen Ebenen begünstigt, Dienstleistungen verbessert und Drittmittelprojekte in großem Stil ermöglicht werden konnten.

    Das alles hatte unter den deprimierenden Umständen eines wieder und wieder gekürzten Stellenplans zu geschehen, eine Bedingung, wie sie keiner anderen deutschen Bibliothek bei gleichzeitig so hohen Erwartungen von Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft auferlegt war, und die auch keine andere tatsächlich geschultert hätte. Man darf sich aber auch einen Moment der Vorstellung hingeben, was ohne dieses Handicap darüber hinaus in Dresden möglich gewesen wäre.

    Bürger hat wesentliche Impulse dafür gegeben, dass die deutsche Barockliteratur und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts der Forschung mit neuen Konzepten zugänglich gemacht, die Erhaltung der historischen Bestände in den deutschen Bibliotheken und Archiven auf die Tagesordnung gesetzt, Kulturgutschutz und Notfallvorsorge ernstgenommen, die Digitalisierung der Zeitungen systematisch begonnen wurden, der deutsch-russische Bibliotheksdialog nicht zum Erliegen kam, die sächsischen Bibliotheken besser als in anderen Bundesländern zusammenwirken, die Informationsinfrastrukturen in Deutschland weiterentwickelt werden und vieles anderes mehr, was in der Aufzählung ermüdet, aber im Einzelnen von großer Wichtigkeit war und von der Weite seines Blickes zeugt.

    Er hat sich auch nicht gescheut, politisch Position gegen Pegida, Fremdenfeindlichkeit und geschlossene Weltbilder zu beziehen, wenn etwa wissenschaftlich begründete Warnungen vor dem Klimawandel geleugnet werden. Auf dem March for Science hat er öffentlich seine Grundüberzeugung vertreten:

    »Alle Menschen auf allen Kontinenten sollen freien Zugang zum Wissen erhalten, denn sonst wird die Kluft zwischen arm und reich, zwischen Gebildeten und digitalen Analphabeten nicht kleiner, sondern größer. Information ist eine öffentliche Aufgabe, sie bedarf mehr denn je demokratischer Kontrolle und Transparenz. Information darf weder zur Ware noch zur Propaganda verkommen.«

    Die dritte Eigenschaft, die einen erfolgreichen Bibliothekar ausmacht und die wir hier in nuce vor uns haben, scheint mir die Fähigkeit zum strategischen Denken zu sein, und zwar was die Position der eigenen Institution, aber auch die Welt des Wissens insgesamt betrifft. Denn wir sehen Thomas Bürger in verschiedenen Zusammenhängen als einen politisch denkenden Bibliothekar, dem praktische Urteilskraft und kluge Folgenabschätzung gleichermaßen zu Gebote stehen.

    Aber wirklich erfolgreich kann ein Bibliothekar nur sein, wenn zu den drei Voraussetzungen noch ein kleine Zutat hinzukommt, das Tüpfelchen auf das i, so wie das beste italienische Essen nichts ist, wenn es nicht durch ein gutes Dessert, ein mit leichter Hand serviertes Tiramisu gekrönt wird: Das sind Selbstironie, Humor und Witz. Erst diese Eigenschaften machen den Umgang mit ihm zu einem Vergnügen, das jedermann sucht.

    Bürger verfügt über diese Eigenschaften, selbst in feierlich-staatstragenden und objektiv-traurigen Situationen. Ich vergesse nicht, wie er in seiner Grabrede auf den Erzprotestanten Paul Raabe die Trauergemeinde hat erblassen lassen, als er von den Engeln im Himmel sprach, die sich nun darauf freuten, durch einen kompetenten Sterblichen ihr himmlisches Bibliothekswesen neu organisiert zu bekommen, was dann zum Weinen und Lachen gleichermaßen angestiftet hat.

    Ich komme zum Schluss. Wir haben im allgemeinen untersuchen wollen, welche Eigenschaften nötig sind, um als Bibliothekar erfolgreich zu sein, und sind dabei immer wieder auf das Beispiel Bürger zurückgefallen, wie die Kugel beim Kegeln, die doch lieber in die Seitenrille rollt, als auf der Bahn zu bleiben. Wir haben gesehen, wie er zunächst als Wissenschaftler eine Idee von der Bibliothek ausgebildet und sodann eine glückliche Hand bewiesen hat, mit Menschen umzugehen. Schließlich hat er seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, strategisch und politisch zu denken, ohne dabei bierernst zu werden. So hat Thomas Bürger gezeigt, was es heißt, im Beruf des Bibliothekars erfolgreich zu sein. Man kann dabei auf den Gedanken kommen, dass es sich eigentlich um einen sehr schönen Beruf handelt.

    Aber wenn wir ganz aufrichtig sein wollen, müssen wir noch auf ein Geheimnis zu sprechen kommen, das sich nicht auf den ersten Blick enthüllt: Thomas Bürger hat den Beruf des Bibliothekars nämlich gar nicht ausgeübt, er hat ihn verkörpert. Person und Sache bilden bei ihm eine Einheit. Das ist auch der Grund für die besondere Dankbarkeit, die wir ihm heute schuldig sind.

    Michael Knoche