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09. Juli 2018 — Biblioteca Apostolica Vaticana – die Büchertrutzburg
Als Robert Darnton am 27. April 2016 in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek seinen Vortrag Digitize, democratize hielt, führte er auch eine ganze Reihe von Bildern vor, die den Festungscharakter alter Bibliotheken eindrucksvoll belegten. Da waren mächtige Eisengittertore zu sehen, die den Bibliothekseingang abriegelten, abweisende Hinweisschilder, riesige Vorhangschlösser und dicke Mauern, auf denen zusätzlich noch verdrillte Drähte mit scharfkantigen Spitzen potentielle Einbrecher abschreckten.
Die Biblioteca Apostolica Vaticana gehört zu den bestgesichertsten Bibliotheken der Welt. Hier liegen einige der kostbarsten Manuskripte unserer kulturellen Überlieferung, frühe Bibeltexte, z.B. der »Codex Vaticanus«, eine Abschrift von Dantes Göttlicher Komödie, illustriert von Sandro Botticelli, oder Teile der Biblioteca Palatina aus Heidelberg. Hier werden fast 2 Mio. Druckschriften, davon 800.000 vor 1900 erschienene Drucke, 100.000 Handschriften, 200.000 Autographen, 70.000 Karten und Stiche, sowie 300.000 Münzen und Medaillen aufbewahrt. Als Gründungsjahr – nach Vorläufern in Antike und Mittelalter – gilt 1475 (Papst Sixtus IV.).
Der heutige Bibliotheksbau entstand gegen Ende des 16. Jahrhunderts und wurde 2007 bis 2010 umfassend saniert und mit neuester Technik ausgestattet. Er befindet sich in demselben Teil des Päpstlichen Palastes wie die Vatikanischen Museen und das Geheimarchiv. Der Zugang erfolgt nicht über den Petersplatz, sondern die Porta di SantAnna, über die der gesamte interne Betrieb des Vatikans abgewickelt wird. Von dort geht es weiter über den Cortile del Belvedere zur Bibliothekspforte (Abb.). Um ins Arkanum vorzudringen, muss man dreimal seinen Bibliotheksausweis vorzeigen.
Besitzt man unglücklicherweise noch keine Tessera, wie die begehrte Benutzerkarte heißt, ist der Ablauf folgendermaßen: Man erklärt der Schweizer Wache sein Anliegen, wird dann zur Passkontrolle geschickt, wo das Anliegen erneut vorzutragen ist. Dort wird der Personalausweis kopiert und einbehalten, stattdessen erhält man einen vorläufigen Besucherausweis mit der Aufschrift »Biblioteca«. Mit diesem öffnen sich die weiteren Tore, bis man vor der Segreteria steht. Dort wird man nach einer kleinen Wartezeit vorgelassen, erklärt, was man in der Bibliothek forschen will, zeigt sein Empfehlungsschreiben vor, das von einer anerkannten wissenschaftlichen Einrichtung ausgestellt sein muss, ggf. auch die Doktorurkunde und füllt einen Antrag aus. Der kopierte Personalausweis liegt dem Zulassungsbüro bereits online vor. Was noch fehlt, ist ein Foto, das an Ort und Stelle von der freundlichen Bibliothekarin selber gemacht wird.
Dann darf man sich die Tessera wie einen Orden um den Hals hängen. Das muss man allerdings auch, weil es sich um eine Magnetkarte handelt, mit der man ständig weitere Türen öffnen oder Vorgänge abschließen muss. Selbst der Garderobenschrank öffnet sich nur mit der Tessera. Gleichzeitig lässt sich so jede Bewegung im Gebäude, das auch mittels Videokameras überwacht wird, dokumentieren. Im 3. Stockwerk angekommen, hat man kaum Zeit, die fast achtzig Meter lange Sala Leonina zu bewundern, denn man muss sich (erstaunlicherweise: handschriftlich) in eine Liste eintragen und bekommt einen von etwa 120 Leseplätzen zugewiesen. Es sind nur etwa 15 Leseplätze besetzt.
Der Grund für die genaue Festlegung des Ortes ist ein anderer: Auf dem altertümlichen Lesetisch aus Eichenholz, an dem vier Personen bequem nebeneinander sitzen können, liegen jeweils 6 Pappkartons mit der Leseplatznummer aus, die man als Platzhalter für die aus dem Bücherbestand im Lesesaal entnommenen Werke verwenden kann. Selber zurückstellen darf man die Bücher nicht. Dadurch dass der Name des Lesers mit seinem Platz verknüpft ist, kann die Aufsicht im Zweifelsfall nachprüfen, ob alles seine Ordnung gehabt hat. Wenn man die sechs Kärtchen für sechs Bücher verwendet hat, kann man Feierabend machen.
Oder man betrachtet einmal in Ruhe den schönen Saal mit seinem Marmorfußboden, den hohen Fenstern, freskierten Decken und imposanten Kardinalsportraits auf der einen Seite und den doppelstöckigen Buchregalen mit schätzungsweise 30.000 Bänden Handbuchbestand auf der anderen Seite. Man kann aber auch Bücher aus den Magazinen bestellen. Der Besucher aus Germania wollte sich erklären lassen, wie die elektronische Bestellung funktioniert und löste beiderseits Verwirrung aus, was er zunächst seinen Sprachkenntnissen zuschrieb, bis er begriff, dass trotz Online-Katalog und modernster RFID-Technik ein normaler Leihzettel mit vier Durchschlägen handschriftlich auszufüllen war. Pro Tag werden fünf Bestellungen auf magazinierte Literatur angenommen, davon dürfen nur drei gleichzeitig benutzt werden.
Insgesamt umfasst das Regolamento für die Benutzung sechs engbedruckte Seiten. Man liest mit Genugtuung, dass der Gebrauch von Mobiltelefonen untersagt ist, Essen und Trinken sowieso, aber auch, dass die Leser angemessene Kleidung tragen müssen. Bücher werden nicht aus dem Haus verliehen, es sei denn, man ist Papst. Leider ist auch Fotografieren verboten. An den Wochenenden und zwei Monate im Sommer ist die Bibliothek ganz geschlossen. Ein eigenes Kapitel behandelt die Sanktionen, die der böswillige oder nur widerspenstige oder allzu trottelige Bibliotheksbenutzer zu erwarten hat.
Wie auf dem Foto zu sehen ist, ist das Portal der Vatikanischen Bibliothek nur einen Spalt breit geöffnet. Unverkennbar sind die Ansätze, den Lesern die Arbeit im Haus zu erleichtern und den Aufenthalt konfliktfrei zu gestalten. Aber manche Regelungen erinnern an die Zeit, als die Bibliothek nur den Mitgliedern der Kurie zur Verfügung stand und ein weltliches Wesen fast nie in ein Buch schauen durfte. Die heutige Öffnung für die Gelehrtenwelt ist anscheinend nur mit einem Übermaß an Kontrollmechanismen zu erkaufen. Doch nach der Wiedereröffnung im Jahr 2010 sind die Benutzungszahlen rapide gesunken.
Es handelt sich bei dieser Büchertrutzburg freilich um eine der größten Schatzkammern für Schriftgut überhaupt und die vielleicht letzte Bibliothek, die ihr Selbstverständnis ausschließlich aus ihrem großartigen Bestand ableitet. Das hat auch etwas Erfrischendes in einer Zeit, in der sich Bibliotheken ganz dem Servicegedanken verschrieben haben und konzeptionslos jedem Wunsch ihrer Benutzer hingeben.
Michael Knoche