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24. September 2018 — Der verwünschte 2. September: Das Brasilianische Nationalmuseum brennt
Als ich am 2. September 2018 an den Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek vor genau 14 Jahren zurückdachte und meinen Blogbeitrag »Die Menschenkette in der Brandnacht« vorbereitete, ahnte ich nicht, dass sich im selben Moment in 10.000 km Entfernung eine andere, vielleicht noch schrecklichere Brandnacht ereignete. In Mitteleuropa kam die Nachricht erst mit Verspätung an und wurde in den Zeitungen unter »Vermischtes« oder im »Feuilleton« gemeldet: Das Brasilianische Nationalmuseum in Rio de Janeiro ist am 2. September 2018 weitgehend abgebrannt.
Betroffen sind 20 Mio. Museumsstücke, von denen man heute noch nicht weiß, wie viele davon geborgen werden konnten. Aber wenn man die Berichte über das Unglück liest und die Bilder davon sieht, muss man befürchten, dass von diesem umfangreichen Bestand nicht viel übrig geblieben ist. Zum Vergleich: Beim Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek ging es um 200.000 Objekte, die durch den Brand beschädigt oder vernichtet worden waren (der Gesamtbestand umfasste knapp 1 Mio. Einheiten). Das Desaster von Rio ist von biblischem Ausmaß. Es berührt die ganze Welt.
Das Brasilianische Nationalmuseum ist das größte Naturkunde-Museum Südamerikas und eines der ältesten in der Welt. Das Museum war nicht nur ein einzigartiges Forschungszentrum, sondern auch eine Bildungsstätte für unzählige Schüler- und Studentengenerationen. Es enthielt Artefakte, die für das kulturelle Selbstverständnis des Landes und des Kontinents und das historische Gedächtnis der Menschheit wichtig waren. So befand sich in dem ehemaligen Schloss des portugiesischen Königs und der kaiserlichen brasilianischen Familie etwa das älteste jemals in Amerika gefundene Skelett mit dem Kosenamen »Luzia«. Es soll mindestens 11.000 Jahre alt sein.
Die Sammlung wurde in mehr als zwei Jahrhunderten durch Expeditionen, Ausgrabungen, Erwerbungen, Schenkungen und Tauschgaben geformt und in sieben Bereichen ausgebaut: Geologie, Paläontologie, Botanik (mit botanischem Garten), Zoologie, Anthropologie, Archäologie (mit einem besonders wertvollen altägyptischen Bestand) und Ethnologie. Das Museum beherbergte neben einem historischen Archiv auch eine der größten Spezialbibliotheken Brasiliens mit knapp 500.000 Bänden und 2.400 seltenen Werken, die allerdings separat untergebracht war und verschont geblieben zu sein scheint.
Viele Details erinnern mich an den Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. In Rio war das Feuer kurz nach Schließung des Gebäudes für die Besucher um 19.30 Uhr ausgebrochen (in Weimar ebenfalls zum Ende der Öffnungszeit um 20.25 Uhr). Hier wie dort waren schnell viele Mitarbeiter zur Stelle und haben aus dem brennenden Haus Objekte gerettet. Dabei wurden sie von einer sehr engagierten Feuerwehr unterstützt, die erkannt hatte, welche Werte auf dem Spiel standen. Hier wie dort wurden in den Vorjahren Reparaturen durch Spendenmittel (in Rio durch Crowdfunding) finanziert, weil die regelmäßige Bauunterhaltung finanziell nicht abgesichert war. Jahrelange Klagen der Direktion über den maroden Zustand des Gebäudes waren vorausgegangen und der Einbau eines modernen Brandschutzsystems angemahnt worden. In beiden Fällen war die Sanierung des Gebäudes aber beschlossen.
Man kann sich leicht vorstellen, wie verzweifelt die Museumsleute in Rio jetzt sind, die nicht nur mitansehen müssen, wie ihre eigene kuratorische Arbeit, sondern die vieler Vorgängergenerationen in Rauch aufgegangen ist. Es ist zu vermuten, dass die brasilianischen Kollegen mit guten Tipps und Patentrezepten aus aller Welt überflutet werden und zum Trost auch gleich die trivialsten Ersatzobjekte, meistens in wohlmeinender Absicht, geschenkt bekommen. Ich habe eine Woche nach dem Brand ein Paket mit Trödelware (angestoßener Kaffeekanne, Zuckerdose etc.) zugesandt bekommen mit der Empfehlung, diese Dinge doch zu verkaufen und mit dem erlösten Geld die Bücherrestaurierung zu finanzieren. Die Gefahr, dass die unmittelbar Betroffenen alle Anstrengungen als sinnlos betrachten, ist groß. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie wichtig in den ersten Tagen nach dem Unglück Anteilnahme und Solidaritätsbekundungen sind.
Besonders hilfreich sind natürlich auch finanzielle Zuwendungen, weil man Planungen darauf aufbauen kann. Willkommen waren in Weimar auch Beratungsangebote zu Spezialfragen, etwa zum Vorgehen bei der Restaurierung brandgeschädigter Buchobjekte. Aber wirksam werden konnte das Expertenwissen erst nach einer bestimmten Zeit. Im Moment müssen die Fachleute in Rio de Janeiro unter hohem Handlungsdruck eine Unzahl an Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen treffen – ohne Rücksprache mit der Fachcommunity oder langwierige Literaturrecherchen. Die Anforderungen an ihre persönliche Kompetenz und psychische Belastbarkeit sind immens.
Die deutsche Bundesregierung hat richtig reagiert und 1 Mio. € als Soforthilfe zur Verfügung gestellt. Außerdem ist im Außenministerium im Referat »Kultur- und Medienbeziehungen Afrika, Asien, Australien/Pazifik, Lateinamerika« ein Koordinierungsbüro eingerichtet worden, das am 21. September verschiedene deutsche Experten nach Berlin eingeladen hat.
Die herrschende Gedankenlosigkeit im Umgang mit der kulturellen Überlieferung kann die Fliehkräfte in den Gesellschaften verstärken. Wenn es keinen gemeinsamen Bezugspunkt auf die Geschichte mehr gibt, weil sich ihre materielle Basis aufgelöst hat, bleibt wenig übrig, woran sich eine Gesellschaft orientieren kann. Die offensichtlich durch Fahrlässigkeit begünstigten Katastrophen von Weimar und Rio jeweils am Unglückstag des 2. September dürfen sich nicht wiederholen! Der biblische König Belsazar brauchte nur ein einziges Menetekel, um zu verstehen, dass seine Herrschaft gefährdet war.
Aktuell und informativ: https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=National_Museum_of_Brazil&uselang=de#2018_fire
Michael Knoche