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25. Juni 2018 — Elegie auf den roten Briefkasten
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Für jeden, der früher Italien bereist hat, war der rote Briefkasten der italienischen Post ein Gegenstand froher Aufmerksamkeit. Er war schön anzuschauen in seiner leuchtend roten, leicht konvexen, gusseisernen Erscheinung mit seinen beiden Öffnungen (eine für die innerstädtische Post, eine für alles andere), die so konstruiert sind, dass man nichts mehr herausbekommt, was je durch den Spalt geschoben wurde. Der rote Briefkasten war das wichtigste Bindeglied zur Heimat.
Wenn die Ansichtskarten geschrieben und durch den Schlitz ins Innere des Kastens gesteckt waren, atmete jedermann erleichtert auf ob der Erledigung dieser kleinen Bußübung für die Entfernung von daheim. Man konnte hoffen, dass die Postkarten nach gebührendem Zeitablauf nunmehr durch einen anderen Schlitz, den des privaten Briefkastens, beim Empfänger landen und so ihre geheimnisvolle Reise durch halb geöffnete Münder überstanden haben würden. Es sei denn, dass man Jahre später von der Entdeckung eines großen Lagers ausreichend frankierter, aber nicht zugestellter Sendungen bei Ascoli Piceno hören musste, zwischen die auch die eigenen Postkarten geraten sein mochten.
In bestimmten brennenden Angelegenheiten wurde dem roten Briefkasten sein Rang zwar durch die Telefonzelle streitig gemacht. Aber das Telefonieren von Italien nach Deutschland war lange Zeit nichts, was man ohne Not tat. So schnell, wie es nötig war, konnte man die Telefonmünzen gar nicht in den gefräßigen Apparat werfen, und alle Liebesschwüre hatten etwas Gehetztes oder wurden gar übertönt durch das dauernde Klacken der Gettoni.
Nun ist es eine Trivialität festzustellen, dass das Ansichtskartenschreiben und das Telefonieren aus Telefonzellen wie alles andere analoge Tun aus der Mode kommen. Es ist bekannt, dass man heute lieber eine WhatsApp mit Selfie aus dem Urlaub verschickt. Eine solche Handlungsweise hat aber gar nichts Bußübungshaftes mehr, sondern ist eine Marketingaktion in eigener Sache.
Umso verwunderlicher ist es, dass im heutigen Italien die Ansichtskarten noch allgegenwärtig sind. Denn das bunte Angebot auf wackeligen Ständern setzt eigentlich voraus, dass die Handlungskette zu ihrer Beförderung noch funktioniert. Das ist aber gar nicht der Fall: Briefmarken und Briefkästen sind in der Krise. Früher konnten Briefmarken zusammen mit der Ansichtskarte im autorisierten Tabakladen gekauft werden. Aber entweder dürfen dies die Händler nicht mehr, oder es lohnt sich nicht mehr für sie – jedenfalls gibt es in keinem italienischen Tabakladen mehr Briefmarken trotz der vertrauenerweckenden Hinweistafel Sali e tabacchi valori bollati.
Die sogenannten Briefmarken, die man an den Kiosken oder in den Mini-Supermärkten bekommt, sind solche eines privaten Zustelldienstes (GPS), die ein Drittel teurer sind als die der italienischen Post. Wenn man sich diese hat aufschwatzen lassen, muss man außerdem noch begreifen, was einem Kurzzeit-Touristen selten gelingt, dass die so frankierten Karten nur in die firmeneigenen gelben Boxen geworfen werden dürfen. Die Boxen sehen ganz erbärmlich aus und haben nichts von der Würde der roten Briefkästen. Die Ansichtskarten dieses Dienstes erreichen laut Erfahrungsberichten im Netz ihre Empfänger in der Hälfte aller Fälle.
Briefmarken der offiziellen Poste Italiane bekommt man nur noch in einem Postamt. In den größeren Filialen muss man am Eingang an einem Automaten ein Ticket mit einer Nummer lösen: und zwar ein Ticket der Kategorie Servizi Corrispondenza e pacchi. Es ist ganz normal, wenn man zunächst die falsche Kategorie, etwa Poste Impresa oder Servizi Finanziari, gewählt hat, dann reiht man sich mit seiner Ticketnummer eben von neuem in die Warteschlange ein. Einmal am Schalter, kann man seine Postkarte einfach da lassen. Aber wehe, man kauft Briefmarken auf Vorrat und schreibt die Karten erst später. Dann beginnt die Suche nach dem Ort, wo sie aufzugeben sind, von neuem.
Zwar findet man die vertrauten roten Kästen, wenn man archäologisch geschult ist. Aber oft sind sie mit Graffiti bemalt, von Vandalen zerbeult, mit Reklame beklebt, verborgen hinter Vegetation, in der Farbe verblasst und fast rosa geworden. Manchmal steht Fuori servizio auf den Klebebändern, die sie umschließen. Wenn dieser Hinweis fehlt, hängt es allein von der persönlichen Einschätzung des Liebhabers dieser obsoleten Kulturtechnik ab, ob es sich um einen lebendigen oder toten Briefkasten handelt. Der Empfänger der Ansichtskarte ahnt gar nicht, welcher Dornenpfad hinter den fröhlichen Grüßen für den Absender gesteckt hat.
In Deutschland gibt es ebenfalls ein Briefkastensterben – so pathetisch muss man das Phänomen benennen. Hier montiert man die Kästen aber ab, während in Italien die Pietät vor dem einstigen zentralen Kommunikationsmittel, das ja nicht nur Grüße aufnahm, sondern manchmal auch unsere Hoffnungen, Lieben, Freuden und Sorgen davon trug, sehr ausgeprägt ist. Die roten Briefkästen werden nicht verschrottet, sie werden in einen Zustand der Agonie versetzt. Wir können sie noch finden und ein letztes Mal zärtlich berühren. Aber ihr Totenglöcklein kann man schon hören.
Lieber alter roter Briefkasten, was wird aus dir?
Michael Knoche z. Z. Rom