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25. Februar 2019 — Kreislaufkollaps im deutschen Buchhandel
Seitdem am 14. Februar 2019 der größte Zwischenbuchhändler in Deutschland, die Koch, Neff & Volckmar GmbH (KNV), Insolvenz anmelden musste, ist die Welt des Buchhandels nicht mehr in Ordnung. Der Marktanteil des Barsortiments von KNV liegt bei etwa 45 Prozent, der Umsatz bei mehr als einer halben Milliarde Euro. Das Unternehmen hält im 2015 neu errichteten Erfurter Zentrallager rund 590000 Titel von über 5000 Verlagen auf Vorrat. Über Nacht kann jeder Titel an insgesamt 5600 Buchhandlungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz geliefert werden.
Als Barsortimenter kauft der Zwischenbuchhändler von den Verlegern Bücher und Medien auf eigene Rechnung und liefert sie an die vertraglich gebundenen Bucheinzelhändler. Der eingesetzte Insolvenzverwalter muss alles daran setzen, das Geschäft nicht ins Stocken geraten zu lassen. Aber die Verlage zögern mit dem Nachschub, weil sie fürchten, kein Geld für ihre Ware zu bekommen. Bei einer Unterbrechung des Kreislaufs können Buchhändler ihre Endkunden nicht mehr (in erträglicher Frist) beliefern und werden Umsatzverluste hinnehmen müssen.
Für die Verlage ist die Insolvenz unmittelbar bedrohlich. Denn bei den langen Zahlungszielen, die im Buchhandel üblich sind, hat KNV die Einnahmen aus dem Weihnachtsgeschäft noch nicht ausbezahlt. Diese Einnahmen können nun in den Wind geschrieben werden. Sie dienten den Verlagen in der Regel dazu, im Frühjahr die Autorenhonorare auszuzahlen und Dienstleiser- und Druckereirechnungen zu begleichen. Da die Kapitaldecke vieler Verlage, zumal der kleineren und mittleren, nach den gerichtlich angeordneten Rückzahlungen in Folge des VG Wort-Urteils von 2016 dünn ist, geraten sie (und ggf. ihre Autoren) in ernste finanzielle Bedrängnis. Viele kleine Verlage haben 50 Prozent des Umsatzes mit KNV gemacht. Man kann davon ausgehen, dass einige von ihnen die KNV-Insolvenz nicht überleben werden.
Man stelle sich in Gedanken vor, dass alle 5600 Buchhandlungen mit allen 5000 Verlagen in einen individuellen Geschäftsverkehr treten müssten. Jeder kann sich ausmalen, was das an Personalkosten und Lieferzeiten kosten und letztlich für die Bücherpreise bedeuten würde. Ohne die Erfindung des Zwischenbuchhandels in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wäre der inhabergeführte stationäre Buchhandel in Deutschland nicht überlebensfähig. Die beiden Mitbewerber von KNV, Libri (45 Prozent Marktanteil) und Umbreit (10 Prozent), wären nicht in der Lage, so kurzfristig in die Bresche zu springen und das Liefersystem zu stabilisieren.
Die Schwierigkeiten von KNV gelten zum Teil als hausgemacht (kreditfinanzierter Bau des neuen Logistik-Zentrums, der sehr viel teurer wurde als geplant), aber die Umsätze im Buchgeschäft gehen insgesamt zurück. Der Branchenkenner Thomas Bez (früher: Umbreit) benennt außerdem als Problem, dass die Margen der Zwischenbuchhändler durch den Konzentrationsprozess im Verbreitenden Buchhandel immer mehr gedrückt werden und kaum noch ein kostendeckendes Wirtschaften erlauben. Zwar regele das Buchpreisbindungsgesetz die Grenzen der Konditionenpolitik, aber daran hielten sich viele Lieferanten nicht, um bei den Großabnehmern nicht »ausgelistet« zu werden (Interview mit dem Börsenblatt).
Zum Zwischenbuchhandel zählen auch die ca. 40 Verlagsauslieferungen, die meist als Dienstleister mehrerer Verlage ebenfalls Bestellungen bündeln. Auch KNV betreibt eine Verlagsauslieferung. Diese ist angesichts der Vielzahl anderer Anbieter nicht systemrelevant, trägt aber jetzt dazu bei, die Krise der Verlage, für die sie tätig geworden ist, zu verschärfen. So soll z. B. dtv 10 Mio. € bei der KNV-Verlagsauslieferung stehen haben, die jetzt verloren sind. (dtv macht etwa 2 Mio. € Gewinn pro Jahr.)
Bei allen Horrorszenarien, was jetzt passieren könnte, kursiert in der Branche auch eine schöne Utopie, nämlich die einer genossenschaftlichen Übernahme der bankrotten KNV-GmbH durch die betroffenen Verlage. Theoretisch kann in einem Insolvenzverfahren die Fortführung des Unternehmens nicht nur durch den Einstieg eines Investors, sondern auch mithilfe eines sogenannten Debt-to-Equity-Swap durchgeführt werden. Die Verlage hätten die Möglichkeit, ihre offenen Forderungen in Gesellschaftsanteile des Unternehmens KNV umzuwandeln. Das Problem ist nur: Es werden zusätzlich riesige Summen für die Sanierung gebraucht, und wer sollte diese aufbringen?
Vielleicht erleben wir jetzt das Ende des besten Buchverteilsystems der Welt, das auch kleine Buchhandlungen wettbewerbsfähig gemacht hat. Vielleicht verändert sich der Logistikmarkt in Richtung Auch-Lieferung von Büchern neben Medikamenten und Schuhen. Sehr wahrscheinlich stärkt die Krise die Marktmacht der Buchkaufhäuser wie Thalia, Hugendubel & Co., die eigene Zentrallager führen. Von Amazon gar nicht zu reden. Auf jeden Fall gefährdet der nun kollabierte Kreislauf die Vielfalt des Buchhandels und indirekt den relativ günstigen Preis für Bücher. Das ist spätestens der Punkt, der auch Bibliothekare und Leser interessieren sollte.
Michael Knoche