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  • 04. Februar 2019 — Mein Lieblingsartikel in der Weimarer Verfassung

    Abgeordnete der Nationalversammlung bei der Beratung der Verfassung im Deutschen Nationaltheater Weimar

    Am 6. Februar 1919 trat im Deutschen Nationaltheater in Weimar die Nationalversammlung zusammen, um die erste parlamentarisch-demokratische Verfassung Deutschlands zu erarbeiten. Zentrale Verfassungsprinzipien waren die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung und die Grundrechte, darunter die Gleichstellung der Frauen.

    Mein Lieblingsartikel in der Weimarer Verfassung ist Artikel 10.2, der »Bibliotheksparagraph«, in dem die Rahmengesetzgebungskompetenz des Reichs gegenüber den Ländern formuliert wird. Soweit das Reich auf diesen Gebieten Gesetze erließ, brach Reichsrecht das Landesrecht. Ich halte den Paragraphen auch in unserer heutigen föderalen Verfassung für vorbildlich. Seine Einfügung in die Weimarer Verfassung ist in der Bundesrepublik Deutschland leider völlig vergessen worden. Der Artikel lautet vollständig:

    Artikel 10
    Das Reich kann im Wege der Gesetzgebung Grundsätze aufstellen für:
    1. die Rechte und Pflichten der Religionsgesellschaften;
    2. das Schulwesen einschließlich des Hochschulwesens und das wissenschaftliche Büchereiwesen;
    3. das Recht der Beamten aller öffentlichen Körperschaften;
    4. das Bodenrecht, die Bodenverteilung, das Ansiedlungs- und Heimstättenwesen, die Bindung des Grundbesitzes, das Wohnungswesen und die Bevölkerungsverteilung;
    5. das Bestattungswesen.

    Zu denen Lebensbereichen, in denen eine gewisse Einheitlichkeit in ganz Deutschland wünschenswert ist, zählt also neben dem Bestattungswesen, das sogar einen eigenen Paragraph bekommen hat, erstaunlicherweise auch das »wissenschaftliche Büchereiwesen«.

    Tatsächlich sind wissenschaftliche Bibliotheken wie wenige andere Institutionen stets auf Kooperation, Arbeitsteilung und Koordinierung angewiesen. Alle Bibliotheksleistungen in Bestandsaufbau, Nachweis, physischer Aufbewahrung, Speicherung digitaler Daten und Informationsvermittlung können heute sinnvoll nur in abgestimmter Kooperation erbracht werden. Aber das Dilemma ist: Es gibt keine länderübergreifende Bibliothekspolitik in Deutschland. Das Fehlen staatlichen Handelns führt außerdem dazu, dass die deutschen Bibliotheken international einen schweren Stand haben.

    Wie kommt der Bibliotheksparagraph eigentlich in die Verfassung? Seine Einfügung ist dem damaligen Direktor der Universitätsbibliothek Bonn Wilhelm Erman zu verdanken, der den Hergang in seinen Erinnerungen (Hrsg. von Hartwig Lohse, Köln 1994, S. 300 ff.) ausführlich beschreibt. Er wandte sich brieflich an verschiedene Abgeordnete wie Erich Koch-Weser, den späteren Reichsinnenminister, und den »Vater« der Weimarer Verfassung Hugo Preuss. Außerdem warb er für das Anliegen in Artikeln und Leserbriefen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, u.a. im Zentralblatt für Bibliothekswesen. Auf Antrag des DDP-Abgeordneten Alfred Herrmann wurde das »wissenschaftliche Büchereiwesen« am 3. Juli 1919 mit großer Mehrheit in Paragraph 10 der Verfassung aufgenommen.

    Der einzige Schönheitsfehler des Bibliotheksparagraphen besteht darin, dass er damals keinerlei praktische Wirkung entfaltete. Erman tröstet sich darüber bei der Niederschrift seiner Erinnerungen in den zwanziger Jahren mit dem schönen Gedanken: »Wenn ruhigere Zeiten in Deutschland wiederkehren, wird man sich des in § 10 der Verfassung geschaffenen Hilfsmittels zur vernünftigen Umgestaltung des deutschen Bibliothekswesens erinnern, und ich hoffe, dass es dann auch nicht, wie heutzutage, an energischen und organisatorisch begabten Fachgenossen fehlen wird, die davon den rechten Gebrauch machen. Ich grüße sie vorahnend im Geiste und wünsche ihnen guten Erfolg.«

    Michael Knoche