Abschied 2016 (Foto: Welz, Klassik Stiftung Weimar)

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  • 19. November 2018 — Shakespeare und doch ein Ende. Dieter Mehl zum Gedenken

    Dieter Mehl in Weimar 2014

    Dieter Mehl, geboren am 21. September 1933, ist am 3. September 2018 verstorben.

    Mit Dankbarkeit denke ich an viele anregende Begegnungen zurück. Das Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen hat uns zusammengebracht. Ich sehe noch, wie er im Frühjahr 1991 die Holztreppe des Verlagshauses von Erich Schmidt in der Berliner Genthiner Str. 30 G hochstieg. Ein gutes halbes Jahr zuvor war Ellinor Kahleyss (1927–1990) gestorben, die Verantwortliche des Verlags für die Publikationen im Bereich Philologie. Ihr durfte ich für einen kurzen Zeitabschnitt nachfolgen. Ich war schnell von Dieter Mehl, der Weite seines Blicks, seinem Qualitätsbewusstsein und seiner Entschlussfreude beeindruckt und fand Gefallen an seinen ironischen, oft selbstironischen Kommentaren, die von einem ganz speziellen Mienenspiel begleitet waren.

    Der Zufall wollte es, dass ich ihn kaum ein Jahr später in Weimar wiedertraf. Diesmal stieg er die herrschaftliche Steintreppe der Herzogin Anna Amalia Bibliothek hoch. Einen modernen Personenaufzug konnte ich meinem Besucher auch an der neuen Arbeitsstelle nicht bieten. Mehl war Mitglied des Vorstands der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, die in diesem Haus die Shakespeare-Bibliothek unterhielt, und designierter erster Präsident der wiedervereinigten Gesellschaft. Auch in dieser Sache gab es viel zu besprechen. Hier waren es sein Organisationstalent, seine internationalen Verbindungen und sein diplomatisches Geschick, die ich als weitere Vorzüge an ihm schätzen lernte.

    Bevor ich Dieter Mehl kennenlernte, kannte ich seinen Vater – aus der Literatur. Denn Ernst Mehls »Deutsche Bibliotheksgeschichte« in Wolfgang Stammlers Deutsche Philologie im Aufriss war Pflichtlektüre für jeden jungen Bibliothekar. Der Sohn hat einmal bekannt: »Ich wurde wenige Gehminuten von der Bayerischen Staatsbibliothek entfernt als Sohn eines dieser Institution mit Leib und Seele verschriebenen Bibliothekars geboren. Zu meinen eindrucksvollsten Kindheitserinnerungen gehört eine Bombennacht 1944, in der die Bayerische Staatsbibliothek weithin sichtbar brannte und mein Vater noch im Morgengrauen die zwölf Kilometer von unserem Vorort in die Ludwigsstraße radelte, um dort unverzüglich die Rettung des Möglichen leiten und selbst bei der Bergung wertvoller Bestände Hand anzulegen.« Kein Wunder, dass ihn der Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek am 2. September 2004 besonders aufgewühlt hat.

    Dieter Mehl ist in München geboren, zur Schule gegangen (Abitur 1952) und hat an der dortigen Universität das Studium der Anglistik, Germanistik und Geschichte aufgenommen. Vor dem Studienbeginn aber lag noch ein »Werksemester«, damals Bestandteil der Förderung durch das evangelische Studienwerk Villigst. Ein halbes Jahr lang arbeitete Mehl als Rohrleger auf und unter den Straßen Dortmunds und bekam Einblick in die harte Arbeitswelt der Nachkriegszeit.

    Nach Semestern an den Universitäten Durham und in Göttingen wurde er in München bei seinem hochgeschätzten Lehrer Wolfgang Clemen über das Thema Die Pantomime im Drama der Shakespearezeit promoviert und habilitierte sich bald. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1998 war er Ordinarius am damaligen Englischen Seminar der Universität Bonn, wo er englische Literatur vom Mittelalter bis zur Neuzeit lehrte und viele Schüler hatte, die ihn verehrten und denen er selber unverbrüchlich die Treue hielt.

    Er verfasste neben Werkausgaben und Übersetzungen (Geoffrey Chaucer, Jonathan Swift, Charles Dickens) eine Fülle wissenschaftlicher Studien zu Shakespeare, zur englischen Literatur des Mittelalters, zu Lyrik und Drama der Renaissance und zur Literatur der Moderne (D. H. Lawrence). Mehl gehörte zu den nicht so zahlreichen deutschen Anglisten, die international rezipiert wurden. Schon im Shakespeare-Jahrbuch 1961 konnte Mehl einen ersten wissenschaftlichen Aufsatz über das elisabethanische Drama veröffentlichen.

    Seine mehr als 300 weiteren wissenschaftlichen Beiträge zusammengenommen erreichten aber nicht die Auflagenhöhe des Vorlesebuchs (Langewiesche-Brandt, 1954), das der junge Student mit zahlreichen in der Familie erprobten literarischen Texten, aber auch Neuentdeckungen herausbrachte. Zusammen mit einem Fortsetzungsband wurde es fast 100.000 mal verkauft.

    Mehl war bereits 1962, ein Jahr vor der Spaltung, der Shakespeare-Gesellschaft beigetreten und wurde später zusätzlich Mitglied der Bochumer West-Gesellschaft. Daher war er wie kein zweiter für die Präsidentschaft der wiedervereinigten Gesellschaft prädestiniert. Er amtierte neun entscheidende Jahre von 1993 bis 2002.

    Unter seiner Leitung vollzog sich das Zusammenwachsen der beiden Vereine nicht überstürzt, sondern Schritt für Schritt ohne Verwerfungen. Dabei hatte er als Präsident durchaus auch ein Gespür dafür, welche Konflikte ausdiskutiert und welche lange zurückliegenden Verwundungen nicht gerade in aller Öffentlichkeit tiefenpsychologisch bearbeitet werden sollten. Wenn es ihm zu bunt wurde, war er auch zu bissigen Bemerkungen (»Schmarr’n!«) oder scheinbar bewundernden Kommentaren fähig, die man nur ironisch verstehen konnte. Es wäre ihm zuzutrauen, dass er manchmal seinen Mantel absichtlich falsch zugeknöpft hat, um sich den Anschein eines liebenswürdigen zerstreuten Professors zu geben. Der Habitus war die perfekte Tarnung für seine geistige Souveränität, die er für das Gedeihen dieser ältesten noch aktiven literarischen Vereinigung eingesetzt hat.

    In Shakespeare’s Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark (I.2, 184–188), heißt es:

    Hamlet: My father — me thinks I see my father.
    Horatio: Where, my lord?
    Hamlet: In my mind’s eye, Horatio.
    Horatio: I saw him once; ›a was a goodly king.
    Hamlet: ›A was a man, take him for all in all, I shall not look upon his like again.

    (Gekürzte Fassung des Textes, der im Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 255, 2 (2018) S. 241–245 erschienen ist.)

    Michael Knoche