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10. September 2018 — West-Literatur in Ost-Bibliotheken
Wie gut war die westdeutsche Literaturproduktion während der 50er und 60er Jahre in wissenschaftlichen Bibliotheken der DDR präsent?
Der Beschaffung von Literatur aus dem Westen standen zwei wesentliche Hindernisse entgegen: Zum einen waren die finanziellen Ressourcen, insbesondere die Devisen, für den Ankauf westdeutscher Literatur äußerst begrenzt. Zum anderen bezweifelte die Sozialistische Einheitspartei (SED) die Notwendigkeit, Bücher und Zeitschriften des »Klassenfeindes« in größerem Umfang überhaupt zugänglich zu machen.
Auf jeden Fall sollten Texte ausgeschlossen sein, die »militaristischen«, »imperialistischen«, »revisionistischen«, »revanchistischen« oder »klerikalfaschistischen« Inhalts – so die Terminologie, wenn vom »Klassenfeind« die Rede war – oder die gegen die Freundschaft mit der Sowjetunion gerichtet waren. Irgendeiner dieser Vorwürfe traf auf nahezu jede westliche Publikation zu. Nur die technisch-wissenschaftliche Literatur war davon ausgenommen: Sie ließ in der Regel keine politische Tendenz erkennen.
Die Erwerbungen, die die 15 wichtigsten wissenschaftlichen Bibliotheken der DDR getätigt haben, sind zwischen 1955 und 1963 von 76.585 auf 102.997 Titel insgesamt gestiegen. Da aber die Gesamterwerbungen noch kräftiger gewachsen sind, fällt der Anteil der Erwerbungen aus Westdeutschland und Berlin von 29 auf 24 Prozent. Auch in der späteren DDR-Zeit wird die Quote der fünfziger Jahre nicht mehr erreicht. In den fünfziger Jahren war die Lage noch vergleichsweise gut.
Gleichzeitig muss man in Rechnung stellen, dass die durchschnittlichen Ausgaben für den Bücherkauf bei einer ostdeutschen Universitätsbibliothek im Jahr 1963 bei 202.000 M lagen. Im Vergleich dazu hat eine westdeutsche Universitätsbibliothek im selben Jahr durchschnittlich 471.000 DM ausgegeben. Dieses Geld konnte uneingeschränkt auch für den Erwerb auf dem internationalen Buchmarkt verwendet werden. Die Kaufkraft der ostdeutschen Universitätsbibliotheken war vergleichsweise niedrig.
Ein anderer Maßstab zur Beurteilung der Frage, ob 24 % Westpublikationen nun viel oder wenig sind, ist die Anzahl der Neuerscheinungen des Buchhandels in Ost und West. Im Osten stieg die Titelproduktion von 2.480 (1950) allmählich auf 6.073 (1989) an, im Westen von 13.181 (1950) auf 65.980 (1989). Wollten die Bibliotheken also den gleichen repräsentativen Ausschnitt aus dem Buchmarkt in ihren Buchbeständen widerspiegeln, hätte dem Wachsen der westdeutschen Produktion um das Fünffache viel stärker Rechnung getragen werden müssen.
Gemessen am starken Interesse auf Seiten der Benutzer und gemessen an der Fülle erwerbungswürdiger Literatur, die keine abzulehnende politische Tendenz hatte, kann man nicht davon sprechen, dass die Bibliotheken der DDR einen ausreichenden Bestand an West-Publikationen angeboten hätten.
Die Bibliothekare saßen zwischen allen Stühlen: den Erwartungen der Partei, der grotesken Bürokratie und den enttäuschten Lesern. Ihrem Berufsethos hätte es entsprochen, den Lesern ein vielfältiges Literaturangebot unzensiert anzubieten. Aber bei dem Versuch, Publikationen aus dem westlichen Deutschland zu beschaffen, gerieten sie unweigerlich mitten hinein in die ideologischen Kämpfe um den »Sieg des Sozialismus«. Im Ergebnis hatten die Benutzer der DDR-Bibliotheken nur stark eingeschränkte Möglichkeiten, über den staatlich definierten Tellerrand hinauszublicken.
Ausführlich nachzulesen bei Michael Knoche: West-Literatur in Ost-Bibliotheken. Die Präsenz der westdeutschen Literaturproduktion in wissenschaftlichen Bibliotheken der DDR. In: Buch und Bibliothek im Wirtschaftswunder. Entwicklungslinien, Kontinuitäten und Brüche in Deutschland und Italien während der Nachkriegszeit (1949–1965). Herausgegeben von Klaus Kempf und Sven Kuttner. Wiesbaden: Harrassowitz 2018, S. 73–85 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen Bd. 63)
Michael Knoche