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  • 24. Dezember 2018 — Parallelverlage im geteilten Deutschland. Eine Buchbesprechung

    Zwei Fenster

    Die Bibliotheca Teubneriana, die berühmte Reihe mit verlässlichen Texten antiker Autoren, wurde seit 1850 bei B. G. Teubner publiziert. In der Zeit der deutschen Teilung gab es zwei Teubner-Verlage, in Leipzig und in Stuttgart. Beide betrachten sich als einzig legitime Nachfolgerin des Traditionsverlags und wollten die Reihe in eigener Regie weiter herausgeben. Auf eine gemeinsame Fortführung konnte man sich nicht einigen. Zur Verwirrung der Kunden und des Buchhandels erschienen Neuauflagen und Nachdrucke vergriffener älterer Ausgaben ab 1958 nicht nur in Leipzig, sondern auch in Stuttgart, wobei sich das Stuttgarter Haus den Hinweis erlaubte, dass man hier auch die Leipziger Ausgaben beziehen könne.

    Das Buch von Anna-Maria Seemann Parallelverlage im geteilten Deutschland. Entstehung, Beziehungen und Strategien am Beispiel ausgewählter Wissenschaftsverlage, Berlin 2017 untersucht das Phänomen systematisch und zeichnet die Entwicklung der Verlage bis in die frühen sechziger Jahre hinein nach. Unter dem Begriff »Parallelverlage« werden Unternehmen verstanden, die ihren Sitz ursprünglich auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR hatten und die in den westlichen Zonen bzw. der Bundesrepublik Deutschland Zweigstellen gründeten oder ihren Sitz dorthin verlagerten, wobei der Betrieb am alten Standort weiterexistierte. Dies betraf mehr als 30 Firmen.

    Die Autorin wählt für ihre Erlanger Dissertation die acht Wissenschaftsverlage aus, die hauptsächlich auf den Gebieten Naturwissenschaften, Technik und/​oder Medizin tätig waren: die Akademische Verlagsgesellschaft (Geest & Portig) in Leipzig, Johann Ambrosius Barth in Leipzig, Gustav Fischer in Jena, S. Hirzel in Leipzig, Carl Marhold in Halle/​S., Theodor Steinkopff in Dresden, B. G. Teubner und Georg Thieme (beide in Leipzig). Zum Teil hatten diese Verlage auch geisteswissenschaftliche und andere Literatur im Programm.

    Die acht wissenschaftlichen Parallelverlage werden in knappen Einzelporträts vorgestellt. Der einzige Verleger aus diesem Kreis, der mit seiner Familie in dem legendären Autobus saß, den die Amerikaner am 12. Juni 1945 von Leipzig nach Wiesbaden schickten, um ausgewählten Buchproduzenten Schutz vor den Russen und bessere Arbeitsmöglichkeiten in der Amerikanischen Besatzungszone anzubieten, war der Thieme-Chef Bruno Hauff. Von Wiesbaden zog er einige Monate später nach Stuttgart weiter, wo sich bald ein neues Buchhandelszentrum bildete. Das Hauptinteresse der anderen ostdeutschen Verleger konzentrierte sich zunächst darauf, die Genehmigung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) zur Weiterarbeit vor Ort zu bekommen. Die Einzellizenzen wurden zwischen August 1946 und Juni 1947 erteilt – allerdings nicht dem Verlag Georg Thieme, der unter Treuhandschaft gestellt wurde.

    Ausschlaggebend für die Gründung eines westdeutschen Standortes war nicht etwa, dass der Verlag im Osten enteignet worden wäre. Die Enteignung war allenfalls eine Folge, nicht die Ursache für die Verlagerung. Vielmehr waren die Zweigstellengründungen eine Reaktion auf die Unsicherheit bezüglich der weiteren politischen und verlagspolitischen Entwicklungen. »In Volkseigentum überführt« wurden Anfang der fünfziger Jahre von den untersuchten Verlagen nur Thieme, Marhold und Fischer. Bei weiteren drei Verlagen erfolgte im weiteren Verlauf eine staatliche Beteiligung (Teubner, Akademische Verlagsgesellschaft und Hirzel). Steinkopff wurde 1978 aufgelöst, Barth blieb formal ein Privatunternehmen.

    Die Autorin untersucht auch die Strategien, mit denen die Verlage versucht haben, die Konflikte zu lösen. Das Handeln war eben auch sehr stark von den internen Gegebenheiten der Firma und der Persönlichkeit des Verlegers bestimmt. In einigen Fällen suchten die Beteiligten die Verständigung. So gab es zwischen dem enteigneten Verlag Gustav Fischer Jena und Gustav Fischer Stuttgart Absprachen über Lizenzen und Gemeinschaftsauflagen. Auch bei Barth und Steinkopff herrschte über viele Jahre ein kooperatives Verhältnis. In anderen Fällen (beispielsweise B. G. Teubner) kam es zur scharfen Konfrontation mit (fruchtlosen) gerichtlichen Auseinandersetzungen und dem Versuch, die Einfuhr umstrittener Titel aus der DDR in die Bundesrepublik zu verhindern oder wenigstens über Stuttgart zu steuern. Gleichwohl: So, wie die beiden deutschen Staaten die Legitimität des jeweils anderen leugneten und doch zusammenarbeiteten, lässt sich an den Parallelverlage studieren, dass sie selbst in den heißen Phasen der Auseinandersetzung die Verbindung zueinander nicht abgebrochen hatten – zum Teil aus politisch-ideologischem Interesse (Vision Wiedervereinigung), zum Teil aus ökonomischen Gründen.

    Insgesamt kann Anna-Maria Seemann die Vorstellung von zwei voneinander abgeschotteten Buchmärkten, die den Regeln des Kalten Krieges unterworfen wären, aufbrechen und zeigen, wie vielfältig die Beziehungen zwischen den Verlagen in Ost und West tatsächlich waren. Sie präsentiert zahllose neue Fakten, die nicht nur für die einzelne Firmengeschichte relevant sind, sondern zum besseren Verständnis der Wirtschafts-, Buchhandels- und Wissenschaftsgeschichte der Zeit beitragen.

    Anna-Maria Seemann: Parallelverlage im geteilten Deutschland. Entstehung, Beziehungen und Strategien am Beispiel ausgewählter Wissenschaftsverlage. Berlin: deGruyter Saur 2017. 595 S. Preis 99.95 € (Schriftmedien – Kommunikations- und buchwissenschaftliche Perspektiven. Band 6)

    Ungekürzte Fassung der Besprechung in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 170 (2018) 255. Bd., S. 400–403.

    Michael Knoche