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  • 16. Juli 2018 — Qatar National Library – von Null auf Hundert

    Claudia Lux (zweite von links) mit Besuchern vor dem Gebäude der Qatar National Library

    Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit in der westlichen Hemisphäre wurde vor einigen Wochen in Doha eine bemerkenswerte neue Bibliothek eingeweiht – die Nationalbibliothek Katars. Sie liegt am Rande der Großstadt in der sogenannten Education City, wo die Nationaluniversität, aber auch zahlreiche internationale Hochschulen und Forschungseinrichtungen ihren Sitz haben und wo vor einigen Jahren noch öde Steinwüste war. Die Qatar National Library verfügt über eine Fläche von 46.000 qm, ist also etwa fünfmal größer als die Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Architekt des spektakulären, rhombusförmigen Gebäudes mit silberfarbener Außenhaut ist Rem Koolhaas.

    Die Sammlung der Bibliothek umfasst schon bei der Eröffnung mehr als eine halbe Million Bücher in Englisch, Arabisch und anderen Sprachen, die, nach Fachgebieten geordnet, zum größeren Teil frei zugänglich in den Regalen stehen. Gleichzeitig wird mit beeindruckendem Tempo eine digitale Bibliothek aufgebaut, für die schon über 150 Nationallizenzen erworben wurden. Nationallizenz bedeutet in diesem Fall, dass jeder angemeldete Nutzer auch auf die elektronischen Ressourcen, die von den internationalen Verlagen teuer lizenziert wurden, von jedem Punkt des Landes, selbst von seiner Privatwohnung aus, zugreifen kann. Die digitale Bibliothek wurde schon einige Jahre vor der Fertigstellung des Gebäudes freigeschaltet und hat dazu geführt, dass schon im voraus mehrere zehntausend Leser registriert waren.

    Die Spezialsammlung zum kulturellen Erbe bildet einen eigenen besonders inszenierten Bereich des Gebäudes und zählt etwa 70.000 Objekte der arabischen und islamischen Zivilisation, darunter Handschriften, frühe gedruckte Bücher, historische Karten, Globen, Fotografien und wissenschaftliche Instrumente.

    Nur für die alten Bestände gab es Vorläufereinrichtungen. Die übrige Sammlung wurde erst in den letzten fünf, sechs Jahren zusammengetragen. Auch alle Dienstleistungen, die Organisationsstruktur, die personelle Besetzung wurden parallel zur Bauplanung realisiert. Diese gigantische Planungsleistung nötigt jedem, der das Ergebnis sieht – eine der modernsten und attraktivsten Bibliotheken überhaupt –, höchsten Respekt ab. Projektdirektorin des gewaltigen Unternehmens war von 2012 bis 2017 Claudia Lux, die frühere Generaldirektorin der Zentral- und Landesbibliothek Berlin und ehemalige Präsidentin des Weltverbandes der Bibliotheken IFLA.

    Es ist bemerkenswert, dass in unseren Tagen, wo einige Schlaumeier die Bibliotheken angesichts des Internets für obsolet erklären (zuletzt Pius Knüsel in der NZZ am Sonntag vom 7.7.2018), eine Bibliothek dieser Dimension neu gegründet wird. Die Geldgeber der Bibliothek sind davon überzeugt, dass die Ressource Wissen für die Gesellschaft der Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielt, selbst in ihrem heute noch rohstoffreichen Land, und dass gerade eine Bibliothek der Motor des Wandels sein kann.

    Auch die Konzeption der Bibliothek ist bemerkenswert. Sie übernimmt neben den klassischen Aufgaben einer Nationalbibliothek zugleich Funktionen einer Forschungs-, Universitäts- und einer zentralen Stadtbibliothek mit Kinder- und Jugendabteilung. Eine solcherart integrierte Gesamtbibliothek hat es bisher noch nirgendwo gegeben, und die bibliothekarische Gemeinschaft sollte sehr genau studieren, wie das Experiment in Doha funktioniert.

    Noch etwas anderes ist interessant. Die Nationalbibliothek hat in den letzten Jahren zusammen mit der British Library eine große Digitalisierungskampagne durchgeführt. Die in London bisher nur grob erschlossenen Archivalien der Ostindien-Kompanie und anderer Institutionen der britischen Kolonialmacht am Golf wurden aufbereitet und nun zugänglich gemacht. Auch wertvolle arabische Handschriften des Mittelalters gehören zum Projekt. Damit erhalten die Nutzer per Open Access Zugriff auf wichtige Quellen der eigenen Geschichte, die ihnen bisher vorenthalten oder zumindest schwer erreichbar waren. Dieses Kooperationsprojekt zeigt einen Weg auf, Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten wieder in den wissenschaftlichen und kulturellen Diskurs des Herkunftslandes zurückzuführen, ohne auf die Verhandlungsergebnisse der großen Politik über die Rückgabe von Kulturgütern warten zu müssen.

    Man mag viele Gründe sehen, dem politischen Kurs von Katar mit seinen 2,7 Mio. Einwohnern, darunter 90 % Ausländer, kritisch gegenüber zu stehen (absolute Monarchie, Frauenrechte, Arbeitsbedingungen der fremdländischen Bauarbeiter, Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2022 usw.) Man muss Katar aber auch in dem streng islamischen Kontext seiner Nachbarländer sehen, aus dem es spürbar heraussticht und in dem es inzwischen sogar isoliert ist. Goethe jedenfalls hätte die Bibliotheksgründung gefallen. Er hat die Bibliotheksarbeit als das »friedlichste sittlichste Bildungsgeschäft« bezeichnet.

    Michael Knoche