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  • 27. August 2018 — Wenn alles im Digitalen verschwimmt

    In der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt

    Während früher ein gedrucktes Buch, eine Urkunde oder eine Akte jahrhundertelang unverändert Auskunft über einen bestimmten Wissensstand geben konnten, ist die Belegbarkeit des Wissens im digitalen Kontext zu einem fast unlösbaren Problem geworden. Digitale Quellen sind nicht dauerhaft erreichbar – und wenn sie es sind, sind sie nicht unbedingt authentisch, sondern können auch manipuliert sein. Dem System Wissenschaft, das zunehmend auf Digitalität setzt, droht ein verhängnisvoller Kontrollverlust.

    Digitale Objekte sind leicht zu verändern, permanent zu aktualisieren, ja geradezu fluid. Manchmal handelt es sich um laufend aktualisierte Textkonglomerate, die gar keine lineare Struktur mehr haben, oder um Medien jenseits des klassischen Publikationsbegriffs, in die auch Bildergalerien, Video- und Audio-Files integriert sind. Die elektronischen Distributionswege haben außerdem dazu geführt, dass die wissenschaftlichen Verlage zumindest im Bereich Naturwissenschaft, Technik und Medizin ihre E-Journals und E-Books nicht mehr verkaufen, sondern nur noch lizenzieren. Die Bibliotheken erwerben also nur ein begrenztes Zugriffsrecht und stellen diese Zugänge ihren Nutzern zeitlich befristet zur Verfügung. Die Dateien bleiben Eigentum der Verlage.

    Die Bibliotheken in Deutschland untersuchen zur Zeit verschiedene Lösungsmodelle für eine zentrale Speicherung elektronischer Ressourcen (»Hosting«). Es geht darum, einen stabilen Zugriff auf sämtliche lizenzierte und lizenzfreie digitale Publikationen in Deutschland zu gewährleisten. In den USA gibt es die Agentur Portico, die das ansatzweise leistet und sich aus Gebühren von Verlagen und Bibliotheken finanziert. Die von Verlagen zugelieferten elektronischen Dokumente werden gespeichert und können im Notfall von den Bibliotheken abgerufen werden. Aber Portico ist nicht das Ei des Kolumbus. Die Server stehen in einem Land, das den Datenschutz weniger ernst nimmt als Deutschland. Vor allem: Das System sichert nur die Mainstream-Dokumente der großen Verlage, die sich dem Unternehmen angeschlossen haben.

    Wenn sich die deutschen Bibliotheken über ein Konsortium an Portico beteiligen, wie dies jetzt wahrscheinlich ist, müssen sie auch Vorkehrungen für die Publikationen schaffen, die von dieser Agentur nicht abgedeckt sind. Daher wird zusätzlich ein anderes Hostingmodell geprüft: Bei LOCKSS handelt es sich um eine Open Source Technologie zur Speicherung von Objekten auf verschiedenen Festplatten, die weltweit verteilt sind, um das Sicherheitsrisiko zu minimieren. So können z.B. Zeitschriften kontinuierlich mit den Servern der Mitgliedsbibliotheken auf Authentizität abgeglichen werden. Ziel ist der Aufbau eines nationalen Netzwerks in Deutschland, um insbesondere die Produkte kleinerer Verlage und von Open Access Publikationen abzusichern. Bis dahin wird es aber noch eine Zeit dauern.

    Die große Crux beider Modelle ist: Eine umfassende Langzeitarchivierung ist damit nicht verbunden. Langzeitarchivierung bedeutet, dass Dateiinhalte in ihrer originalen Nutzungsumgebung authentisch verfügbar gehalten werden. Das ist eine vertrackte Sache, weil die Betriebssysteme ebenso veralten wie die Hard- und Software. Die Langzeitarchivierung ist nicht nur ein technisches, sondern auch ein organisatorisches und finanzielles Problem. Der amerikanische Experte für Langzeiterhaltung Jeff Rothenberg charakterisiert die Lage sarkastisch: »Digital documents last forever – or five years, whichever comes first.«

    In immer kürzeren Abständen müssen die Speicherkonzepte für die Langzeitsicherung überprüft und angepasst werden. Die besten Repositorien streben eine Aufbewahrungsperspektive von fünfundzwanzig Jahren an, aber ohne Gewähr. Im Kompetenznetzwerk Nestor arbeiten Bibliotheken, Archive, Museen sowie führende Experten gemeinsam am Thema Langzeitarchivierung und Langzeitverfügbarkeit digitaler Quellen. Aber eine ausgereifte und von den Bibliotheken gut nachnutzbare Lösung steht noch aus.

    Die gedruckten Medien garantieren die Überlieferung vorläufig noch besser als die digitalen. Papier lässt sich im Zweifel kostengünstiger und einfacher restaurieren, als bits and bytes haltbar zu machen. Aber an dem Versuch und entsprechenden Pilotprojekten führt kein Weg vorbei. Das ungelöste Thema brennt den Bibliothekaren auf den Nägeln und wird sie in den nächsten Jahren immer stärker beschäftigen. Noch völlig offen ist derzeit, welche Instanz die dafür nötigen finanziellen Mittel bereitstellt, jenseits befristeter Projekte.

    Es ist Sache der Bibliotheken, in den Fluss des Wissens immer wieder Staustufen einzubauen, damit sein Stand verlässlich und dauerhaft referenziert werden kann. Heute sind sie unverdrossen dabei, die Probleme der im Netz bereitgestellten Publikationen pragmatisch anzugehen – sie zu lösen, davon kann nicht die Rede sein. Die Wissenschaft braucht ein ausreichend vielfältiges Angebot und die größtmögliche Stabilität für wissenschaftliche Publikationen auch im digitalen Zeitalter.

    Am 26. August 2018 fand auf dem Erlanger Poetenfest eine Diskussion zum Thema statt. Unter der Leitung von Florian Felix Weyh diskutierten Peter Glaser, Christoph Kappes und Michael Knoche.

    Michael Knoche