Abschied 2016 (Foto: Welz, Klassik Stiftung Weimar)

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  • 19. November 2018 — Shakespeare und doch ein Ende. Dieter Mehl zum Gedenken

    Dieter Mehl in Weimar 2014

    Dieter Mehl, geboren am 21. September 1933, ist am 3. September 2018 verstorben.

    Mit Dankbarkeit denke ich an viele anregende Begegnungen zurück. Das Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen hat uns zusammengebracht. Ich sehe noch, wie er im Frühjahr 1991 die Holztreppe des Verlagshauses von Erich Schmidt in der Berliner Genthiner Str. 30 G hochstieg. Ein gutes halbes Jahr zuvor war Ellinor Kahleyss (1927–1990) gestorben, die Verantwortliche des Verlags für die Publikationen im Bereich Philologie. Ihr durfte ich für einen kurzen Zeitabschnitt nachfolgen. Ich war schnell von Dieter Mehl, der Weite seines Blicks, seinem Qualitätsbewusstsein und seiner Entschlussfreude beeindruckt und fand Gefallen an seinen ironischen, oft selbstironischen Kommentaren, die von einem ganz speziellen Mienenspiel begleitet waren.

    Der Zufall wollte es, dass ich ihn kaum ein Jahr später in Weimar wiedertraf. Diesmal stieg er die herrschaftliche Steintreppe der Herzogin Anna Amalia Bibliothek hoch. Einen modernen Personenaufzug konnte ich meinem Besucher auch an der neuen Arbeitsstelle nicht bieten. Mehl war Mitglied des Vorstands der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, die in diesem Haus die Shakespeare-Bibliothek unterhielt, und designierter erster Präsident der wiedervereinigten Gesellschaft. Auch in dieser Sache gab es viel zu besprechen. Hier waren es sein Organisationstalent, seine internationalen Verbindungen und sein diplomatisches Geschick, die ich als weitere Vorzüge an ihm schätzen lernte.

    Bevor ich Dieter Mehl kennenlernte, kannte ich seinen Vater – aus der Literatur. Denn Ernst Mehls »Deutsche Bibliotheksgeschichte« in Wolfgang Stammlers Deutsche Philologie im Aufriss war Pflichtlektüre für jeden jungen Bibliothekar. Der Sohn hat einmal bekannt: »Ich wurde wenige Gehminuten von der Bayerischen Staatsbibliothek entfernt als Sohn eines dieser Institution mit Leib und Seele verschriebenen Bibliothekars geboren. Zu meinen eindrucksvollsten Kindheitserinnerungen gehört eine Bombennacht 1944, in der die Bayerische Staatsbibliothek weithin sichtbar brannte und mein Vater noch im Morgengrauen die zwölf Kilometer von unserem Vorort in die Ludwigsstraße radelte, um dort unverzüglich die Rettung des Möglichen leiten und selbst bei der Bergung wertvoller Bestände Hand anzulegen.« Kein Wunder, dass ihn der Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek am 2. September 2004 besonders aufgewühlt hat.

    Dieter Mehl ist in München geboren, zur Schule gegangen (Abitur 1952) und hat an der dortigen Universität das Studium der Anglistik, Germanistik und Geschichte aufgenommen. Vor dem Studienbeginn aber lag noch ein »Werksemester«, damals Bestandteil der Förderung durch das evangelische Studienwerk Villigst. Ein halbes Jahr lang arbeitete Mehl als Rohrleger auf und unter den Straßen Dortmunds und bekam Einblick in die harte Arbeitswelt der Nachkriegszeit.

    Nach Semestern an den Universitäten Durham und in Göttingen wurde er in München bei seinem hochgeschätzten Lehrer Wolfgang Clemen über das Thema Die Pantomime im Drama der Shakespearezeit promoviert und habilitierte sich bald. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1998 war er Ordinarius am damaligen Englischen Seminar der Universität Bonn, wo er englische Literatur vom Mittelalter bis zur Neuzeit lehrte und viele Schüler hatte, die ihn verehrten und denen er selber unverbrüchlich die Treue hielt.

    Er verfasste neben Werkausgaben und Übersetzungen (Geoffrey Chaucer, Jonathan Swift, Charles Dickens) eine Fülle wissenschaftlicher Studien zu Shakespeare, zur englischen Literatur des Mittelalters, zu Lyrik und Drama der Renaissance und zur Literatur der Moderne (D. H. Lawrence). Mehl gehörte zu den nicht so zahlreichen deutschen Anglisten, die international rezipiert wurden. Schon im Shakespeare-Jahrbuch 1961 konnte Mehl einen ersten wissenschaftlichen Aufsatz über das elisabethanische Drama veröffentlichen.

    Seine mehr als 300 weiteren wissenschaftlichen Beiträge zusammengenommen erreichten aber nicht die Auflagenhöhe des Vorlesebuchs (Langewiesche-Brandt, 1954), das der junge Student mit zahlreichen in der Familie erprobten literarischen Texten, aber auch Neuentdeckungen herausbrachte. Zusammen mit einem Fortsetzungsband wurde es fast 100.000 mal verkauft.

    Mehl war bereits 1962, ein Jahr vor der Spaltung, der Shakespeare-Gesellschaft beigetreten und wurde später zusätzlich Mitglied der Bochumer West-Gesellschaft. Daher war er wie kein zweiter für die Präsidentschaft der wiedervereinigten Gesellschaft prädestiniert. Er amtierte neun entscheidende Jahre von 1993 bis 2002.

    Unter seiner Leitung vollzog sich das Zusammenwachsen der beiden Vereine nicht überstürzt, sondern Schritt für Schritt ohne Verwerfungen. Dabei hatte er als Präsident durchaus auch ein Gespür dafür, welche Konflikte ausdiskutiert und welche lange zurückliegenden Verwundungen nicht gerade in aller Öffentlichkeit tiefenpsychologisch bearbeitet werden sollten. Wenn es ihm zu bunt wurde, war er auch zu bissigen Bemerkungen (»Schmarr’n!«) oder scheinbar bewundernden Kommentaren fähig, die man nur ironisch verstehen konnte. Es wäre ihm zuzutrauen, dass er manchmal seinen Mantel absichtlich falsch zugeknöpft hat, um sich den Anschein eines liebenswürdigen zerstreuten Professors zu geben. Der Habitus war die perfekte Tarnung für seine geistige Souveränität, die er für das Gedeihen dieser ältesten noch aktiven literarischen Vereinigung eingesetzt hat.

    In Shakespeare’s Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark (I.2, 184–188), heißt es:

    Hamlet: My father — me thinks I see my father.
    Horatio: Where, my lord?
    Hamlet: In my mind’s eye, Horatio.
    Horatio: I saw him once; ›a was a goodly king.
    Hamlet: ›A was a man, take him for all in all, I shall not look upon his like again.

    (Gekürzte Fassung des Textes, der im Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 255, 2 (2018) S. 241–245 erschienen ist.)

    Michael Knoche

  • 12. November 2018 — Der schwarze Kristall in Freiburg/​Br.

    UB Freiburg/Br. (2015, Degelo Architekten)

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    In dem Kapitel »Bibliotheken als reale Orte« meines Buches Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft habe ich eine kleine Liste aufgestellt und neun Beispiele von aus meiner Sicht hervorragenden Bibliotheksgebäuden neueren Datums genannt. Diese Gebäude hatte ich mir alle angeschaut. Ich habe aber längst nicht alle interessanten Bauten neuer wissenschaftlicher Bibliotheken (nur um diesen Bibliothekstyp geht es hier) mit eigenen Augen gesehen. Ein schlechtes Gewissen hatte ich z.B. besonders gegenüber der Diözesanbibliothek Münster (Max Dudler, 2005) und der Universitätsbibliothek Freiburg/​Br., die ich nur von Abbildungen her kannte und deshalb nicht aufnehmen wollte. Jetzt aber habe ich endlich die UB Freiburg besichtigen und die Liste in der 3. Auflage der Idee gleich um dieses bemerkenswerte Gebäude ergänzen können.

    Das alte Gebäude der Bibliothek war ein funktionaler Betonbau der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts als Teil des innerstädtischen Campus. Nach 30 Jahren intensiver Nutzung musste schon deswegen etwas geschehen, weil Asbestbefall festgestellt wurde und die Energiekosten für den schlecht isolierten Bau immens waren. Zunächst glaubte man, bei einer Sanierung das Betonskeletts, die Untergeschosse und die Treppentürme des alten Gebäudes wiederverwenden zu können. Aber während der Bauarbeiten zeigte sich die schlechte Qualität des Betons, so dass doch weitgehend ein Neubau realisiert werden musste. Die Entwurfsidee des renommierten Architekturbüros Degelo aus Basel bestand darin, dem Baukörper eine ungewöhnliche »skulpturale Kristallform« mit vierzehn dunkel verglasten Fassaden zu geben. Die Eröffnung war 2015.

    Die Form des so entstandenen schwarzen Kristalls am Rande der Altstadt Freiburgs ist in der Tat spektakulär, hat aber auch einen imperialen Gestus. Es ist faszinierend zu sehen, wie sich in den riesigen Fensterfronten die Gebäude der Nachbarschaft spiegeln, etwa das Theater oder das zentrale Kollegiengebäude der Universität. Aber die Dimensionen des abstrakten Baukörpers sind so gewaltig, dass die Umgebung klein und bieder erscheint. An dem äußeren Bild des Gebäudes, das nachts, wenn es beleuchtet ist, viel freundlicher und transparenter wirkt als tagsüber, hat sich denn auch eine leidenschaftliche Diskussion unter den Bewohnern der Stadt Freiburg entzündet.

    Das Gebäude präsentiert sich im Innern ganz anders als außen. Man betritt es durch eine sehr große Drehtür und findet in dem hellen offenen Foyer links eine überdimensional große geschwungene Info-Theke aus edlem Holz, die den Eingang in die Lesebereiche markiert. Geradeaus liegt die lange Reihe der Schließfächer. Wendet man sich nach rechts, lockt das Cafè Libresso mit fast 200 Plätzen, ein Ort des ständigen Kommens und Gehens und fröhlichen »Hallos«. Von dort führt eine Treppe in das »Parlatorium« in den Stockwerken zwei bis fünf. Im ersten Obergeschoss befindet sich auch ein Veranstaltungsraum mit 200 Plätzen, im zweiten Schulungsräume, im dritten das Medienzentrum mit Studios für ein Campus-Radio und -Fernsehen, und vom fünften Obergeschoss sind die Büros der Bibliotheksverwaltung erreichbar.

    Das Parlatorium ist eine Freiburger Erfindung. Bibliotheken haben immer das Problem, dass es in ihren Räumen, vor allem in den Lesebereichen, zu laut ist, weil die Besucher miteinander reden wollen. Freiburg hat schon in seinem alten Gebäude daraus die Schlussfolgerung gezogen, jenseits der Lesebereiche einen eigenen Bereich für Kommunikation zu schaffen. Im neuen Haus ist das Parlatorium noch größer (500 Plätze) und viel attraktiver geworden, weil es überall unterschiedlich konzipierte Sitzmöglichkeiten für Arbeitsgruppen bietet: bequeme Sessel, edel gearbeitete lange Lederbänke mit Beistelltischen, konventionelle Tische mit Stühlen, Stehtische oder Kojen mit IT-Technik für kleine Arbeitsgruppen. Die Formensprache der Einrichtung ist klar und elegant. Diesem kommunikativen Sektor wurde ungewöhnlich viel Raum gegeben – offensichtlich zu Recht, denn bei meinem Besuch waren fast alle Plätze belegt und viele Studenten hatten es sich auf dem Teppich bequem gemacht.

    Aus dem Raumbedarfsplan für das Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek wurden Ende der 90er Jahre alle Flächen für »Kommunikation« als entbehrlich herausgestrichen, mit dem Effekt, dass man sich heute außer im Cafè, wenn es denn geöffnet hat, nirgendwo normal unterhalten kann, ohne dass andere Leser nervös aufblicken. Vielleicht fehlte uns damals, um das Finanzministerium zu überzeugen, nur ein schöner lateinischer Terminus wie Parlatorium für das natürliche Bedürfnis, in der Bibliothek andere Leute zu treffen und mit ihnen gemeinsam etwas zu erarbeiten.

    Die Freiburger Lesebereiche unterscheiden sich wenig von gut strukturierten Lesebereichen anderer Bibliotheken. Sie bieten neben 250.000 Bänden in Freihandaufstellung 1200 Arbeitsplätze, meist in Tischreihen mit Abschirmungen zum Gegenüber angeordnet. Zusätzlich stehen Sessel ohne Tisch zum individuellen Lesen mit Fensterblick zur Verfügung. Es gibt einen Sonderlesesaal für die Benutzung der wertvollen historischen Bestände des Hauses, darunter 4.000 Handschriften und Autographen und knapp 3.500 Inkunabeln. Insgesamt stehen in der UB Freiburg 4,6 Millionen Medieneinheiten, davon 3,5 Millionen Bücher, für die Leser bereit.

    Das Gebäude der UB Freiburg besticht durch seine überzeugende Konzeption im Innern. Räume der Kommunikation sind von Orten der Konzentration klar abgegrenzt. Das Haus scheint gut angenommen zu werden. In Spitzenzeiten verzeichnet die Bibliothek 12.000 Besuche täglich. Eine Online-Übersicht zeigt, wo man noch einen freien Arbeitsplatz finden kann.

    https:/​/​www.ub.uni-freiburg.de/​

    Michael Knoche

  • 05. November 2018 — Libraries are not about books, they are about people – Ex Libris, der Film

    Ex libris

    Wer geht schon gerne ins Kino, wenn der Film fast dreieinhalb Stunden dauert? Ich! Aber nur wenn er über Bibliotheken handelt. Jetzt ist, was es auf dem kommerziellen Weltfilmmarkt noch nie gegeben hat, tatsächlich ein solcher Bibliotheksfilm in die Kinos gekommen. Und er ist viel zu kurz, er hätte noch viel länger sein dürfen. Denn er fasziniert nicht nur durch sein Thema (nicht auszuschließen, dass nicht jeder meine Vorliebe teilt), sondern er fasziniert auch als Film: Ex Libris – Die Public Library von New York. 197 Minuten, deutsche Untertitel.

    Der Regisseur Frederick Wiseman, 88 Jahre alt, ist Cineasten ein Begriff als Großmeister des beobachtenden Dokumentarfilms. Für sein einflussreiches Schaffen, darunter seine Filme über das Ballett der Pariser Oper oder die Londoner National Gallery wurde er 2014 in Venedig mit einem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Der neue Film zeigt Szenen aus dem Alltag der New York Public Library, die mit ihren 92 Zweigstellen eine der größten der Welt ist, offen für Forscher, Normalmenschen und Obdachlose.

    Die erste Einstellung zeigt eine Außenansicht des jedem New York-Besucher vertrauten Hauptgebäudes der an der Fifth Avenue mit den beiden grimmigen Löwen. Man hört ein Autohupen, dann wird gleich in eine Podiumsdiskussion mit Richard Dawkins über Atheismus im Foyer der Bibliothek hineingeblendet. Schon hier fällt die ruhige Kameraführung auf, die nicht nur den Rednern Zeit und Raum lässt, um einen Gedanken zu entwickeln, sondern ganz unhektisch auch markante Gesichter des Publikums einfängt und lange bei ihnen verweilt. So viele nichtalltägliche Physiognomien jeden Alters, jeder Rasse und sozialen Schicht sieht man nur in einer einzigen Stadt der Welt, New York. Der Film ist auch ein Portrait der Stadt.

    Am Ende des Films hat man die Bekanntschaft mit Hunderten von Personen gemacht: Besuchern, Lesern, Jobsuchenden, Kursteilnehmern, Gehörlosen, Bibliothekaren, Kindern, Geldgebern, IT-Leuten, Blinden, Forschern sowie Patti Smith und Elvis Costello auf Veranstaltungen in der Bibliothek. Von den Prominenten erfährt man nicht einmal die Namen. Niemand gibt ein förmliches Interview, kein Sprecher aus dem Off kommentiert etwas, keine Filmmusik untermalt etwas. Man sieht nur, was Menschen in der Bibliothek tun.

    Den zahlreichen Benutzern der Bibliothek, die ins Bild kommen, stellt der Regisseur die Bibliothekare gegenüber, die in internen Besprechungen über die richtige Gewichtung von gedruckten Büchern und E-Books diskutieren oder mit ihrem Chef über das noch nicht gesicherte Budget des nächsten Jahres beraten.

    In einer der ersten Szenen führt uns die Kamera in das Callcenter der Bibliothek. Hier wird am Telefon die Leihfrist von Büchern verlängert, Auskunft über knifflige Sachfragen (das Einhorn im Mittelalter) gegeben oder Benutzungsmodalitäten erläutert. Eine Bibliothekarin sagt: »Oh, the Gutenberg Bible is temporarily unavailable for viewing.«

    Die Szenen werden strukturiert durch Außenaufnahmen des Hauptgebäudes, der Zweigstellen in der Bronx, Brooklyn usw. oder vom Schomburg Center for Research in Black Culture. Immer sind auch die Straßen, Häuser, Geschäfte der Nachbarschaft im Bild. Für einen Bibliotheksfilm wird sehr viel gehupt, manchmal rast ein Feuerwehrauto mit heulender Sirene vorbei, man ist halt mitten drin.

    Wie in einem Mosaik setzt sich allmählich im Kopf des Betrachters ein Gesamtbild von der Bibliothek als einem demokratischen Ort der Wissensvermittlung zusammen, der nicht nur die Bedürfnisse der spezialisierten Forscher, der lesenden Hausfrauen oder der Schüler, die ihre Schularbeiten machen müssen, zu erfüllen sucht, sondern auch den Ausgegrenzten der Gesellschaft einen Platz anbietet. »Respect« ist ein Begriff, der immer wieder fällt. »Libraries are not about books, they are about people,« sagt eine Architektin mitten im Film.

    Manchmal kann einen das Kino richtig froh machen. Auf dem Nachhauseweg finde ich alles gut: Den Film, den Regisseur, die New York Public Library, die Bibliotheken schlechthin. Ist doch schön, dass es diesen Ort Bibliothek gibt.

    Trailer des Films
    Website der New York Public Library

    Michael Knoche

  • 29. Oktober 2018 — Die Bibliothek der Vanderbilt University in Nashville TN auf dem Weg nach oben

    Central Library Vanderbilt University aus dem Jahr 1941

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    Die Vanderbilt University in Nashville TN gehört zu den angesehensten und reichsten Privatuniversitäten des Landes. An ihr werden mehr als 12.000 Studenten ausgebildet. Sie ist stolz auf sechs Nobelpreisträger in ihren Reihen, darunter Al Gore und Max Delbrück. Im Ranking der US-Hochschulen steht sie an 14. Stelle. Aber das Bibliothekssystem der Universität (Jean und Alexander Heard Libraries) liegt im Ansehen zurück und nimmt nur Platz 49 unter ihresgleichen ein. Eine Diskrepanz, die als Herausforderung empfunden wird, so fragwürdig die Bewertungskriterien der Ranglisten auch sein mögen.

    Die Zentralbibliothek liegt mitten auf dem mit alten und seltenen Bäumen bepflanzten idyllischen Campus und ist umgeben von zahlreichen Institutsgebäuden im neogotischen Stil des 19. Jahrhunderts. Das ansehnliche Gebäude stammt aus dem Jahr 1941 und wurde inzwischen erweitert und renoviert. Trotzdem wirkt es im Innern labyrinthisch, sobald man sich aus den weiträumigen Lesesälen in die Buchbereiche, genauer gesagt, in die offenen Magazine, begibt.

    Wie in der alten Bibliothèque nationale in Paris bewegt man sich in einem mehrgeschossigen Stahlskelettbau mit niedriger Deckenhöhe und ohne natürliche Belichtung. Da die Bücherregale konstruktive Bedeutung für den Bau haben, kann nichts Wesentliches verändert werden. Zwar findet der Leser alles, was er sucht. Die Bücher sind feinsystematisch nach der Library of Congress Classification aufgestellt. Aber die Atmosphäre ist die eines Lagerhauses, aus dem man schnell wieder ins Freie kommen möchte. Im Magazin gibt es auch Arbeitsplätze für sehr asketische Leser, sogenannte Carrels, die mit ihren Gittertüren an Gefängniszellen erinnern. Einige sind aus nostalgischen Gründen so belassen, wie sie sind, die meisten sind inzwischen etwas ansprechender gestaltet.

    Kein Wunder, dass die Bibliothek großen Wert auf elektronische Publikationen legt, zumal die Stellfläche für Bücher im Zentralgebäude schon lange erschöpft ist und große Teile des Bestands ausgelagert sind. Etwa Dreiviertel des Erwerbungsetats wird für Digitales ausgegeben. Die Leiterin des Bibliothekssystems, Professor Valerie Hotchkiss, eine Frühneuzeithistorikerin, legt dennoch Wert darauf, den Geisteswissenschaften alle gedruckten Bücher zur Verfügung zu stellen, die sie für Lehre und Forschung benötigen. Auch die Sondersammlungen möchte sie weiter pflegen und nennt zwei originelle Sammelgebiete, die es so nur an Vanderbilt gibt: Fiktionale Literatur, die sich mit dem Klimawandel auseinandersetzt, und Theorie und Praxis des Spiels.

    Vor drei Jahren hat sich ein universitätsinternes Komitee gebildet, das das Bibliothekssystems an Vanderbilt evaluiert hat. Professoren und Bibliothekare haben z.T. in gemeinsamen, z.T. getrennten Arbeitsgruppen ihre Bewertungen und Wünsche für eine Universitätsbibliothek der Zukunft formuliert. Herausgekommen ist ein bemerkenswert substantielles und unpolemisches Papier, das auf der Website der Bibliothek veröffentlicht ist.

    Zu den Forderungen des Komitees gehört, dass die Bibliothek mit höheren Mitteln für Erwerbungen und für Personal ausgestattet werden muss. Vor allem muss die Bibliothek aus Sicht der Evaluationsgruppe qualitativ hochwertige Räume für Studenten, Forschung und Zusammenarbeit anbieten können. Die letzte Renovierung der Zentralbibliothek im Jahr 2010 wird als nicht ausreichend betrachtet.

    Wie attraktiv Bibliotheken an der Vanderbilt aussehen können, zeigt sich z.B. in der Eskind Biomedical Library. Da ist die Integration der Bücher, Medien und sogar von Kunstwerken und wissenschaftlichen Artefakten in die Arbeitsumgebung perfekt gelungen. Eine solche Aufenthaltsqualität muss auch die Zentralbibliothek erreichen, will sie die Ranking-Differenz zwischen Platz 14 und Platz 49 eines Tages überwinden. Die Entschlossenheit dazu ist allenthalben spürbar. Eigentlich ist es egal, was den Willen zur Optimierung herausfordert.

    https:/​/​www.library.vanderbilt.edu/​

    Michael Knoche

  • 22. Oktober 2018 — Der denkwürdige 24. Oktober in den Jahren nach dem Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek

    Fernsehsendung auf Arte am 24. Oktober 2007

    Seit der Umbenennung der Zentralbibliothek der deutschen Klassik in Herzogin Anna Amalia Bibliothek im Jahr 1991 war der 24. Oktober, der Geburtstag von Anna Amalia, für die Bibliothek immer ein besonderes Datum. Hinzu kommt, dass seit eh und je am 24. Oktober in ganz Deutschland der Tag der Bibliotheken begangen wird – im Gedenken an den Gründer der ersten öffentlichen Stadtbibliothek in Deutschland (1833), an Karl Preusker aus Zwickau. In den neunziger Jahren hat die Herzogin Anna Amalia Bibliothek aus Anlass dieses Doppelereignisses fast immer eine spezielle Veranstaltung angeboten, ein Konzert mit Schubert-Liedern etwa, eine Lesung von Siegfried Unseld oder einen Vortrag von Walter Jens im Rokokosaal.

    Der 24. Oktober 2004 ist mir besonders deutlich in Erinnerung geblieben, weil der Brand der Bibliothek am 2. September erst wenige Wochen zurücklag. Schon in den ersten Tagen nach dem Unglück war uns klar, dass wir an diesem 24. Oktober etwas Besonderes organisieren müssten. Als der Bundespräsident den Stiftungspräsidenten Hellmut Seemann am 5. September anrief und zusagte, die Schirmherrschaft über die Spendenaktion der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu übernehmen, fragte ihn Hellmut Seemann auch gleich, ob er es einrichten könne, an einem möglichen Benefizkonzert in Berlin am 24. Oktober teilzunehmen. Der Bundespräsident versprachs, ohne sein Amt und seinen Terminkalender lange zu konsultieren.

    Für die anlaufende Unterstützungswelle war es wichtig, möglichst bald mit einer Veranstaltung in Berlin präsent zu sein. Die Staatskapelle Weimar stand für den Termin 24. Oktober zur Verfügung. Die Veranstaltung sollte auch dazu dienen, inhaltlich über das Brandunglück zu informieren. Dafür eine Form zu finden, war allerdings nicht leicht. Glücklicherweise konnte der findige Martin Kranz, der die Detailplanung übernommen hatte, Roger Willemsen dafür gewinnen, durch das Programm zu führen und verschiedene Personen zu interviewen, bevor die Musik begann.

    Roger Willemsen begrüßte um 20 Uhr charmant und informiert wie stets die ca. neunhundert Zuhörer und Ehrengäste und bat den Bundespräsidenten auf die Bühne. Horst Köhler warb um ein breites Engagement für die Herzogin Anna Amalia Bibliothek und fügte auf seine typische Art hinzu: »Deutschland als Kulturnation ist etwas, was wir brauchen, um diese Zeit der Strukturveränderungen gut zu überstehen.« Als Willemsen ihn fragte, warum er – sehr ungewöhnlich – bereits am 5. September so spontan am Telefon die Zusage für diesen Abend gegeben habe, erntete er mit seiner Antwort einen großen Heiterkeitserfolg: »Ich wusste, dass dieser Abend frei war, denn es ist mein Hochzeitstag.« Frau Köhler, die ebenfalls anwesend war, bekam später einen großen Blumenstrauß für ihre freundliche Duldung der Prioritäten. Dann begann das Konzert der Staatskapelle mit der Sopranistin Marietta Zumbült und dem inzwischen verstorbenen großen Schauspieler Ulrich Mühe als Sprecher. Aufgeführt wurde Ludwig van Beethovens Musik zu Goethes Trauerspiel Egmont op. 84 und nach der Pause die Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92.

    Ein Jahr später, am Nachmittag des 24. Oktober 2005, fand bereits das Richtfest für das im Wiederaufbau begriffene Historische Bibliotheksgebäude statt. Fertiggestellt waren neben der Dachkonstruktion bereits auch die Schalung sowie die insgesamt 15 Gauben des Mansardgeschosses. Im Inneren des Gebäudes wies das durch Löschwasser völlig durchnässte Mauerwerk in einzelnen Abschnitten immer noch eine Feuchte bis zu 100 Prozent auf. Hier wurde mit auf rund 200 Grad erhitzten Heizstäben, die im Abstand von ca. 40 Zentimetern jeweils rund 1,5 Meter tief in den Mauern steckten, der Trocknungsprozess beschleunigt.

    Die Kulturstaatsministerin Christina Weiss, die entgegen der ursprünglichen Planung selber nach Weimar gekommen war, sagte in ihrer Rede auf dem Platz der Demokratie: »Wer Bücher liebt wie ich, vergisst die Bilder einer brennenden Bibliothek nie. Es ist kaum mehr als ein Jahr her, … noch ist der Schrecken nicht verflogen, da schwebt schon über neuem Dach der Richtkranz.« Noch war nicht abzusehen, ob der Fertigstellungstermin 24. Oktober 2007 eingehalten werden konnte.

    Der Architekt Walther Grunwald hatte damals in einer internen Arbeitsbesprechung gesagt, er werde froh sein, wenn er das Erdgeschoss und die beiden Ebenen des Rokokosaals sowie den Turm einige Tage vor der geplanten Eröffnung staubfrei übergeben könne. Für das restliche Haus sei dies nicht absehbar. Das hätte bedeutet, dass zu Anna Amalias Geburtstag 2007 allenfalls ein leeres Haus begehbar gewesen wäre. Erst im Dezember wurde der Zeitplan noch einmal überarbeitet und alles darangesetzt, den Termin zu halten und eine Bibliothek und nicht bloß ein Gebäude zu eröffnen.

    Dann konnte der große Wiedereröffnungstermin doch noch gehalten werden: Der Festakt am 24. Oktober 2007 fand um 11 Uhr in einem Festzelt auf der Reithaus-Wiese hinter der Bibliothek statt. 1200 geladene Gäste und fast eine Million Zuschauer der Live-Übertragung im Ersten Programm des Fernsehens verfolgten die Reden und das musikalische Programm der Staatskapelle Weimar. Die Rede des Bundespräsidenten zur Situation der Bibliotheken in Deutschland fand große Beachtung.

    Das Medienecho auf die Wiedereröffnung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek war gewaltig: Fernsehsender, Rundfunkanstalten und Presse brachten nicht nur Agenturmeldungen, sondern zahlreiche Originalbeiträge. Hervorzuheben ist eine 26–seitige Sonderbeilage der Welt, die der Bibliothek zusätzlich eine sechsstellige Spende aus Anzeigeneinnahmen einbrachte. Auch die Zeitungsgruppe Thüringen brachte eine 20–seitige Sonderbeilage. Der Deutschlandfunk sendete in seiner poltischen Hauptnachrichtensendung einen Kommentar zur Wiederöffnung der Bibliothek, der Fernsehsender Arte strahlte zur besten Sendezeit am Abend eine 50–minütige Dokumentation über die »Buchretter von Weimar« aus, die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte das Ereignis am 25. Oktober auf ihrer Titelseite. Am 268. Geburtstag von Anna Amalia in ihrem 200. Todesjahr stand die Weimarer Bibliothek für einen kurzen geschichtlichen Moment im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

    Michael Knoche